Europas Identität zeichnet sich nicht durch das Christentum aus, sondern durch unsere Freiheit. Sie bedeutet Frieden, Meinungsvielfalt und Rechtsstaat.
Von Anna Sting „Wir können nicht zusammenbleiben, wenn wir nicht unsere Identität wiederentdecken. Nicht die Sprache verbindet uns. Uns verbinden 3.000 Jahre gemeinsame Geschichte“, schien für mich der zentrale Satz der Europa-Rede des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani. Er warnte davor, den Identitätsbegriff „rechtsaußen“ zu überlassen; gleichzeitig schien seine Definition der europäischen Identität genau das zu sein: rechtsaußen.
Tajani hielt seine Rede am 9. November 2017 im Allianz Forum neben dem Brandenburger Tor, an einem Tag und Ort, der die deutsche Geschichte prägte wie wenige andere. Herr Tajani mag political correctness als Politiker für überflüssig halten, aber immerhin der Anstand hätte es ihm geboten, den Novemberpogromen von 1938 und der Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden, Sinti und Roma und anderen Minderheiten zu gedenken und einige mahnende Worte zu widmen. Stattdessen rief er zur Rückbesinnung auf eine „europäische Identität“ und 3.000 Jahre währende gemeinsame Geschichte auf, die er unweigerlich mit dem Christentum verband. In jeder Stadt Europas stehe eine Kirche als Zeichen dieser Identität.
Einfluss des Judentums übersehen
Eine kleine Geschichtsstunde scheint mir hier angebracht. Mal ganz davon abgesehen, dass das Christentum erst seit ungefähr 2.000 Jahren existiert, ist es mitnichten der einzige prägende Einfluss auf den europäischen Kontinent. Da wären zum einen die Naturreligionen der Kelten und Alemannen und die polytheistischen Religionen Roms und Griechenlands; letzteres wird ja nun oft von Politikern als die „Wiege der europäischen Demokratie“ bezeichnet. Zu antiker Zeit gab es in der Peripherie und Nachbarschaft Europas jedoch vorrangig nur das Judentum als monotheistische Religion, trotzdem wird von konservativen Akteuren nur sehr selten der Begriff „judeo-christliches Erbe“ benutzt. Es ist vor allem der Gewalt und Geschichtsverleugnung der Nationalsozialisten geschuldet, wenn der Einfluss des Judentums in Europa heute übersehen wird. Zudem sollte man nicht verleugnen, dass der Islam vor allem zwischen dem achten und fünfzehnten Jahrhundert in Andalusien, in Spanien, eine bedeutende Rolle spielte, während sich die christlichen Kirchen in Kreuzzügen und internen Machtkämpfen verloren. Das Christentum des Mittelalters war nicht nur in seiner Beziehung zum aufkommenden Islam, sondern auch nach innen gerichtet von Gewalt, Krieg und Ausgrenzung geprägt. Ganz sicher kann ich sagen, dass ich selbst hier meine europäische Identität nicht wiederfinde.
Istanbul und die Christianisierung Europas
Das Europa des Mittelalters hat es gerade islamischen Gelehrten zu verdanken, dass die Lehren der großen europäischen Philosophen und Wissenschaftler verschriftlicht wurden – zunächst auf Arabisch, dann auf Lateinisch – und sich so in Europa verbreiten konnten. Ohne diese Arbeit wären große Werke im „dunklen Mittelalter“ Europas verloren gegangen. Man darf zudem nicht vergessen, dass Byzanz/Konstantinopel, das heutige Istanbul, lange Zeit Hauptstadt des Oströmischen Reiches war und eine große Rolle bei der Christianisierung Osteuropas spielte. Trotz dieser „gemeinsamen Geschichte“ würde Tajani wohl kaum die heutige Türkei als Teil von Europa ansehen. Zurück in der Gegenwart ist aus meiner Sicht seine Definition der europäischen Identität gleichermaßen falsch. Nicht nur, weil es in Europa schon immer eine Vielzahl der Religionen gegeben hat, sondern auch, weil die christlichen Kirchen in Deutschland und Europa an Mitgliedern verlieren. Schließt Tajani Atheisten und Konfessionslose auch aus? Und wie verhält es sich mit jenen Christen, die nicht auf dem europäischen Kontinent leben? Sind sie durch ihre Religion auch Europäer?
Gemeinsame Geschichte, aus der wir lernen müssen
Europas Identität zeichnet sich meines Erachtens nicht durch das Christentum aus, sondern durch unsere Freiheit. Europas Freiheit besteht aus dem Verständnis von „Freiheit von“ und „Freiheit zu“. Die Ideale Europas, vor allem in der Nachkriegszeit bedeuten, dass wir in der EU seit langem frei von Krieg, frei von Unterdrückung der Minderheiten und frei von Sklaverei sind. Stattdessen haben wir nicht nur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit, sondern erleben auch eine – grundsätzlich – effektive und institutionalisierte Aufrechterhaltung unserer Europäischen Grundrechte und des Rechtsstaats. Bei all dem bleibt ein „Ja” – Europa verbindet eine 3.000 Jahre lange gemeinsame Geschichte, doch es ist eine Geschichte, aus der wir lernen müssen. Denn in der Freiheit liegt unsere wahre Identität. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in mehreren europäischen Ländern sollten wir uns genau auf diese Freiheit zurückbesinnen und sie auch verteidigen. Denn es geht nicht nur darum, den Identitätsbegriff nicht rechtsaußen zu überlassen oder gar zu übernehmen wie Tajani, sondern darum, uns unsere Freiheit nicht von rechtsaußen nehmen zu lassen. — Anna Sting ist Europarechtlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Projektkoordinatorin bei “Wir sind Europa!”. Fotos: privat; Pexels —
- Die 8. Europa-Rede fand am 9. November in Berlin statt. Unter den Gästen waren auch Mitglieder von „Wir sind Europa!“. Wir veröffentlichen in einer Serie ihre Kommentare zur Rede des EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani.
- Péter Techet: Die Europakarte der Brüsseler Bürokratie
- Koen van Groesen: Tajani’s backward Vision
- Kit Holden: „A remarkable Failure“
- Alex Guzenko: Mind the Gap