Zittau 2025: eine große Chance, auch für die Sorben

Die Kreisstadt Zittau in Sachsen möchte 2025 Kulturhauptstadt werden und ist mit ihren 25.000 Einwohnern die weitaus kleinste Bewerberin. Wie stehen ihre Chancen auf den Titel?
Onno Falkena

Von Onno Falkena

Acht deutsche Städte bemühen sich zurzeit um die Zusammenstellung eines Bidbooks, um Kulturhauptstadt Europas 2025 zu werden. Dabei sind große Länderhauptstädte wie Dresden, Hannover und Magdeburg vertreten, aber auch viel kleinere Städte wie Gera, Hildesheim und Zittau bewerben sich. Die tapfere Kreisstadt Zittau an der Bundesgrenze mit Polen und Tschechien ist mit 25.000 Einwohnern die weitaus kleinste Bewerberin. Zittau 2025 ist jedoch nicht nur der Ehrgeiz von Oberbürgermeister Thomas Zenker und Stadtvermarkter Kai Grebasch. Am 26. Mai haben die Bürger von Zittau in einem offiziellen Bürgerentscheid mit 74,2 % ‘Ja’ gesagt zur Bewerbung als Kulturhauptstadt Zittau 2025. Eine überraschend große Mehrheit in einer Stadt, in der die AfD bei der parallel stattfindenden Europawahl mit 28,7 % stärkste politische Kraft wurde. Dieses Ergebnis bedeutet, dass es Zittauer gibt, die AfD wählen und gleichzeitig begeistert die Kulturhauptstadt Europas unterstützen. Es ist ein Hinweis, dass nicht alle AfD-Wähler unbedingt gegen Europa sind. Seit Januar gibt es in Zittau einen recht aktiven Freundeskreis, der den Wettbewerb mit Aktivitäten und Argumenten unterstützt und viele Projektideen, wie das Studieren in drei Ländern, grenzenloser Sport oder ein Dreiländerfestival, beisteuert. Mitglieder des Freundeskreises äußerten ganz klare Herausforderungen auf einem ‚Open Space’-Treffen am 3. Juni mit Mitgliedern der Berliner Organisation ‚Wir sind Europa’: „Wir brauchen mehr Einwohner, damit unsere Stadt nicht weiter schrumpft.” „Es gibt zu viele leerstehende Gebäude, die neue Menschen und Gewerbe brauchen.” “Wir brauchen Perspektiven, damit die Jugendlichen hier bleiben können oder nach der Studienzeit zurückkommen.” „Die Stadt braucht eine neue Zukunft. Die Zittauer sind derzeit zu wenig stolz”, so der Oberbürgermeister. Der Freundeskreis von Zittau 2025 wird bitter benötigt: Ohne freiwillige Begeisterung hat eine relativ kleine Kreisstadt keine Chance als Kulturhauptstadt Europas.

Leeuwarden als positives Beispiel

Dass eine verhältnismäßig kleine Stadt mit Stolz Kulturhauptstadt Europas sein kann, zeigt das Beispiel von Ljouwert/Leeuwarden 2018. Das Bidbook der Hauptstadt der niederländischen Provinz Friesland begeisterte die Jury der Europäischen Kommission viel mehr als die der Großstädte Eindhoven, Den Haag, Maastricht und Utrecht. „Lepen mienskip”, „offene Gemeinschaft”, war der Zentralbegriff in friesischer Sprache. Auch die Holländer in Friesland benutzen häufig das Wort ‚mienskip’, das sich sogar im Bidbook der italienischen Kulturhauptstadt Matera 2019 wiederfindet. ‚Mienskip’ bedeutet, gemeinsam, und oft ehrenamtlich, Sachen zu ermöglichen, die sonst nicht möglich wären – wie Kulturhauptstadt Europas werden. Das größte Projekt in Ljouwert/Leeuwarden 2018 hieß ‚Lân fan Taal’, ‚Sprachenland’. Im temporären Sprachpavillon ‚Mem’ (‚Mutter’) im historischen Stadtpark Prinsetún konnten viele Minderheiten Europas sich eine Woche lang vorstellen mit Musik, Literatur oder anderem. Asturier, Basken, Friauler, Ostfriesen, Sorben und andere nutzten diese Möglichkeit. Im neuen Ausstellungsgebäude Obe gab es eine künstlerische Darstellung der Namen aller 6.000 auf der Welt gesprochenen Sprachen. Außerdem wurde ‚Der Schimmelreiter’ des nordfriesischen Schriftstellers Theodor Storm als Theaterstück mit Beteiligung Dutzender Friesischer Pferde dargeboten. Das Stück wurde in einer großen Halle auf Bildts gespielt, einer alten ‚Zwischensprache’ zwischen Friesisch und Niederländisch, die heute am Wattenmeer von einer Minderheit von 6.000 Menschen gesprochen wird. Dank vieler Besucher gilt ‚Lân fan Taal’ als Erfolg. Friesland will jetzt mit einem Zuschuss der niederländischen Regierung ‚Lân fan Taal’ fortführen als gemeinsames Projekt mit den Nachbarprovinzen Groningen, Drenthe und Overijssel, wo ‚Niedersächsisch’ gesprochen wird, eine Variante der niederdeutschen Sprache. Dass Mehrsprachigkeit jetzt auch ein wichtiges Thema für die Nachbarprovinzen und für das Niederländische Kulturministerium ist, ist ein Erbe der Kulturhauptstadt.

Die ehemalige Kulturhauptstadt ist heute selbstbewusster

2018 hat sich auch etwas in den Köpfen der etwa 100.000 Einwohner der Gemeinde Ljouwert/Leeuwarden verändert. Der Stolz, den Oberbürgermeister Zenker in Zittau vermisst, fehlte früher auch in der westfriesischen Hauptstadt. Symbol dafür war der ironische ‚Liwwadder Blues’ des friesischen Troubadours Piter Wilkens, mit dem Text: „Wie in Liwwadden geboren is, kan et wel skudde.” „Wer in Leeuwarden geboren ist, wird niemals erfolgreich.” Behörden von Stadt und Provinz hassten diesen Blues, der eigentlich diese negative Einstellung kritisiert. Jetzt ist die ehemalige Kulturhauptstadt Ljouwert/Leeuwarden Kandidat für Eurovision 2020 und strebt auch den Status einer ‚City of Literature’ an. Heute herrscht hier Selbstbewusstsein, und eine unabhängige Kommission macht zur Zeit Vorschläge für eine bessere Sprachpolitik in der Kulturhauptstadt mit mehr Friesisch im Straßenbild. Wichtiges Thema außer der Sprache war ‚De Kening fan de Greide’, ‚Der König der Wiese’, die Forderung einer naturinklusiven Landwirtschaft mit viel Lebensraum für die Uferschnepfe. Dieser ‚König der Wiese‘ ist zusammen mit dem Kiebitz der beliebteste Grasvogel Frieslands, inzwischen ist die Art jedoch äußerst bedroht. Dieses Thema wird sogar ganz persönlich inszeniert: Uferschnepfe Amalia wird mit einem Sender von Portugal bis Sibirien und zurück verfolgt. Ihre Ankunft in Friesland wird jedes Jahr im Frühling gefeiert und macht sogar Schlagzeilen: Amalia wer oankommen yn de Greidhoeke! (Amalia ist wieder in der Wiese angekommen!) Im Kulturhauptstadtjahr bekam ‚Der König der Wiese’ eine Ausstellung, ein Theaterstück, eine Tanzvorstellung mit ‚Vogeltanz’ und Jazzmusik in der Natur, ein Kinderbuch und auch ein eigenes Lied, selbstverständlich in friesischer Sprache. Der Initiator des ‚Königs der Wiese’, Klaas-Sietse Spoelstra, sieht einen Zusammenhang zwischen Biodiversität und Sprachenvielfalt. Seiner Meinung nach braucht Fryslân eine Zukunft, in der beide gesichert sind.  

Vorteil der Sprachenvielfalt und geografischen Lage

Das Vernetzen der Liebe für Vogel, Natur und Sprache ist vielleicht ein Thema, das auch die Sorben anspricht. Ljouwert/Leeuwarden hat jedenfalls ‚Der König der Wiese’ als ein Thema präsentiert, das für ganz Europa wichtig ist. Die in Friesland so beliebte Uferschnepfe wird in Frankreich noch immer gejagt und sogar gegessen. Die Sprachen der Minderheiten in Frankreich sind noch immer nicht anerkannt und geschützt. Das kann kein Zufall sein. La France en Marche des Präsidenten Macron hat den Mehrwert der Sprachenvielfalt und den wirksamen Schutz aller Uferschnepfen leider noch nicht entdeckt. Zittau 2025 präsentiert sich als ‚zentrale Stadt in Mittel-Europa’ nicht nur auf Deutsch, sondern ganz bewusst in drei Sprachen: Deutsch, Polnisch und Tschechisch. Zittau ist damit die einzige deutsche Bewerberstadt, die kulturelle Vielfalt nicht nur als wichtiges Thema behauptet, sondern sich auch mehrsprachig präsentiert. Auch die geografische Lage ist ein sogenannter ‚Unique Selling Point’. Noch nie war eine Stadt in einem Dreiländereck Kulturhauptstadt Europas. Zittau hat auch schon eine strategische Partnerschaft aufgebaut mit Nova Gorica. Diese slowenisch-italienische Grenzstadt unterstützt Zittau auch offiziell, weil die Städte so viele Gemeinsamkeiten haben. „Flüsse und Brücken verbinden uns. Beide Städte waren und sind schon immer Orte der Begegnung und Trennung”, erzählt die Zittauer Kulturherzstadterklärung. Nova Gorica ist ebenfalls Kandidatin für die Kulturhauptstadt 2025, hat aber Konkurrenz von der Hauptstadt Ljubljana, von Kranj und von Lendava. Dass es schon eine Partnerschaft gibt zwischen Zittau und Slowenien, ist wichtig. Es gibt jedes Jahr zwei Kulturhauptstädte Europas; 2025 werden diese von Deutschland und Slowenien gestellt. Die Europäische Kommission und die Jury schätzen die Zusammenarbeit zwischen beiden Kulturhauptstädten sehr, und die Zittauer und die Slowenen wissen das. Im Wettbewerb könnte Nova Gorica die Geheimwaffe für die Zittauer sein und Zittau ein wichtiges Argument für Nova Gorica. 2018 teilte Ljouwert/Leeuwarden die Ehre mit der maltesischen Hauptstadt Valletta. Auch dort gab es tatsächlich viel Gemeinsames. Beide Städte sind mehrsprachig, und Friesland und Malta haben eine ganz alte Handelsbeziehung. Seit 150 Jahren gehen friesischen Pflanzkartoffeln jeden Herbst nach Malta, und jeden Frühling gibt es frische Kartoffeln aus Malta in den friesischen Läden. 2018 waren die Kartoffelbeutel bedruckt mit Gedichten in vier Sprachen: Maltesisch, Friesisch, Englisch und die schon erwähnte Zwischensprache Bildts. Dieses Austauschprojekt hieß ‚Potatoes go wild’ oder ‚Wilde Kartoffel’. Die sorbische Minderheit hat bei Zittau 2025 bislang kaum eine Rolle gespielt, aber das könnte sich ändern. Am 3. Juni führten Hana Budarjowa von der Stiftung für das sorbische Volk und Kulturreferent Clemens Skoda der Domowina ein erstes Gespräch in Zittau mit Verantwortlichen der Kulturhauptstadtbewerbung und mit internationalen Fachleuten der europäischen Initiative Wir sind Europa. „Für mich ist das sehr spannend”, so die Zittauer Projektmanagerin Sandra Scheel. „Die Sorben leben in der Nähe, aber die meisten Zittauer wissen kaum etwas über sie.” Besonders im Bereich der Mehrsprachigkeit können die Zittauer viel von den Sorben lernen. Die begrenzten Sprachkenntnisse sind im Alltag eine ernsthafte Behinderung für den weiteren Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den Zittauern und ihren Nachbarn in Hrádek nad Nisou oder Bogatynia. Viele Zittauer reden kaum Tschechisch oder Polnisch, und viele Tschechen und Polen kaum Deutsch. Auch im Büro von Zittau 2025 gibt es bislang keine Kenntnisse der Nachbarsprachen. Mehrsprachige Mitarbeiter im Rathaus ermöglichen die Zusammenarbeit mit den Nachbarn.   In europäischen Grenzregionen sind es oft die Minderheiten, die ihre Nachbarsprachen am besten beherrschen. Ein interessantes Beispiel ist das Val d’Aran in den Pyrenäen. In diesem autonomen Tal in Katalonien leben 9.000 Aranesen, offiziell anerkannt mit einer Ley Aran, dem Aran-Gesetz. In allen aranesischen Grundschulen ist der Unterricht fünfsprachig: Die Kinder lernen das Lesen und Schreiben in aranesischer Sprache, aber ganz schnell wird das Sprachangebot ergänzt durch Katalanisch und Spanisch, später kommen Englisch und Französisch hinzu. Und weil viele ältere Spanier noch immer kaum Fremdsprachen beherrschen, kommen die Aranesen mit fast allen Besuchern und Nachbarn zurecht. In der Oberlausitz sind die Sorben die sprachgewandtesten Einwohner des Freistaates, die sich mit allen Nachbarn gut verständigen können. Es ist deshalb folgerichtig, dass Domowina-Vertreter Clemens Skoda den Zittauern angeboten hat, bei ihren Kontakten nach Tschechien, Polen und Slowenien behilflich zu sein. Auch der Unterricht in Zittau kann viel von den Witaj-Erfahrungen im sorbischen Sprachgebiet lernen. Mit den Sorben an Bord ist Zittau 2025 ein stärkerer Kandidat. Dass Minderheiten ein wichtiges Thema für alle sind, hat die Bundesregierung bereits bei einem Tag der Offenen Tür in Berlin erklärt. Minderheiten sind deshalb auch ein logisches Thema bei einer Kulturhauptstadt in der Oberlausitz, auch wenn diese Stadt ein Stückchen außerhalb des sorbischen Sprachgebiets liegt. Beim ersten Gespräch in der Hillerschen Villa mussten sich Zittauer und sorbische Vertreter noch ein bisschen aneinander gewöhnen. „Wir möchten gerne, dass man unsere Sprache ernst nimmt. Also: keine drei, sondern vier Sprachen”, so Clemens Skoda. „Wie ist es eigentlich, als Minderheit in Deutschland zu leben?”, wollte Projektleiter Kai Grebasch wissen. „Das ist ein sehr wichtiges, universelles Thema.”

Jeder zehnte Europäer gehört einer Minderheit an

Es ist jedenfalls ein wichtiges europäisches Thema. Die Staatsgrenzen innerhalb Europas wurden in den letzten Jahrhunderten mehrmals verschoben, und im Großen und Ganzen gehört jeder zehnte Europäer zu einer Minderheit. Weil Zittau Kulturhauptstadtkandidatin für die ganze Bundesrepublik ist, wurde auch über die Möglichkeit gesprochen, alle Sprachminderheiten Deutschlands vorzustellen. Dann könnten nicht nur Sorben, sondern auch Friesen, Dänen, Sinti und Roma einen Platz im Kulturhauptstadtprogramm bekommen. Das Minderheitensekretariat in Berlin könnte dabei vielleicht helfen, so die Idee. Die Westfriesen in der ehemaligen Kulturhauptstadt Ljouwert/Leeuwarden wird das in jedem Fall freuen. Zittau verdient eine neue Perspektive, und die Minderheiten sind viel stärker, wenn sie zusammenarbeiten. Die Sorben wissen das schon, und die Beteiligung und Unterstützung der Minderheiten macht das Programm von Zittau 2025 interessanter und auch europäischer. Und wie ist es eigentlich möglich, dass noch immer Kinder in Sachsen aufwachsen, ohne etwas über die Sorben und ihre Sprache zu hören? Kulturhauptstadt ist man nicht nur für ein Jahr. Es gibt auch langfristige Ziele und ein Erbe. Wenn alle Kinder in sächsischen Schulen etwas über die zweite offizielle Sprache Sachsens lernten, würde das den Freistaat inklusiver und europäischer machen.   Die große Kreisstadt Zittau kandidiert nicht alleine als Kulturhauptstadt. Die polnischen und tschechischen Nachbarn beteiligen sich ebenso wie die Stadt und der Landkreis Bautzen/Budysin. Das eröffnet die Möglichkeit, im Rahmen von Zittau 2025 Veranstaltungen im sorbischen Sprachgebiet zu organisieren und die Region mitzufeiern. In Ljouwert/Leeuwarden war das der Fall: Viele Vorstellungen fanden in Kleinstädten und Dörfern außerhalb der Kulturhauptstadt statt. Zittau und die Sorben sind gemeinsam stärker. Ende 2019 entscheidet die Jury, welche Städte weiterkommen in die finale Runde. Hoffentlich sind Zittau und die Sorben dabei.

Der Artikel erschien ursprünglich in der sorbischsprachigen Tageszeitung Serbske Nowiny am 11.07.2019.

Onno Falkena arbeitet beim westfriesischen Rundfunk Omrop Fryslân und ist Mitglied der Projektgruppe von Wir sind Europa.