Von Dirk-Jan van Baar
In ganz Europa gibt es eine Stimmung, wonach früher alles besser war. Dies steht der europäischen Idee entgegen, die alte Gegensätze überwinden will und auf die Zukunft orientiert ist. Von den traditionellen Volksparteien heißt es, dass sie sich vom Volk entfremdet haben. Das gilt besonders für die Sozialdemokraten, die in allen europäischen Staaten im Abwärtstrend sind. Dennoch haben sie in der Vergangenheit große Erfolge erzielt, und es ist mir unklar, warum sie sich diese Sehnsucht nach besseren Zeiten nicht zu eigen machen können, um den Rechtspopulisten Paroli zu bieten. Mit dieser Frage im Hinterkopf reiste ich nach Thüringen, in den lieblichen Freistaat im Süden der ehemaligen DDR, Heimat der mehr als 150-jährigen deutschen Sozialdemokratie.
Die SPD tut sich schwer mit Begriffen wie „Stolz“ und „Heimat“
Beim Wort „Heimat“ zieht Andreas Bausewein, seit zwölf Jahren Oberbürgermeister von Erfurt, wo die SPD 1891 einen wegweisenden Parteitag abhielt, ein düsteres Gesicht. Im Rathaus am alten Fischmarkt erklärt der noch junge Bausewein (45), der mich ganz leger in Jeans mit Krawatte empfängt, dass seine Partei sich schwer tut mit Begriffen wie „Stolz“ und „Heimat“. Das hat mit dem internationalen Geist der SPD zu tun, sie ist mehr eine Partei der Funktionäre und Intellektuellen als der Arbeiter. Bausewein persönlich hat eine technische Ausbildung absolviert und kommt aus einer Familie von Facharbeitern. Als typischer Sozialdemokrat fällt es ihm nicht schwer, beinahe ungefragt auf die Fehler seiner eigenen Partei hinzuweisen. Der größte ist seiner Meinung nach, dass die SPD in den Jahren nach der Wende keine ehemaligen SED-Mitglieder aufnehmen wollte. Das habe dazu geführt, dass die Sozialdemokraten im Osten von links schnell Konkurrenz von der PDS bekamen, als die CDU im bürgerlichen Lager die politische Welt noch für sich alleine hatte.
Die SPD bekam es stets mit vollendeten Tatsachen zu tun
Hier rächt sich, dass die SPD nach der deutschen Einigung, die der in progressiven Kreisen als Provinzler verpönte Helmut Kohl abgerungen hatte, es stets mit vollendeten Tatsachen zu tun bekam. In der SPD hoffte man, ähnlich wie bei den ostdeutschen Bürgerrechtlern, dass die DDR sich als souveräne Demokratie behaupten könne. Kohl hatte aber intuitiv verstanden, dass das Volk im Osten die Einheit (und die D-Mark) wollte. Alle SPD-Mitglieder, denen ich in Erfurt begegnet bin, sind heute der Meinung, dass der Staatsmann Kohl dies damals richtig gesehen hat. Alle waren auch der Ansicht, dass der katastrophale Zustand der jetzigen SPD dem blassen Auftritt in Berlin zuzuschreiben ist. Keiner war Befürworter für ein ‚Weiter So‘ in der GroKo unter Angela Merkel, obwohl die Bundeskanzlerin wie sie aus der DDR stammt und für eine „Sozialdemokratisierung“ der CDU steht. Die SPD im Osten kann sich schwerlich darüber beklagen, dennoch soll alles anders werden, radikaler und vor allem deutlich linker.
Dazu muss man auch in Erfurt bei den Jungsozialisten sein. Juso Kevin Groß (26) ist nach eigener Aussage kein Liebhaber von Small Talk, zeigt sich aber beim Cappuccino als profilierter und lebhafter Gesprächspartner, der über jedes Thema eine fundierte Meinung besitzt. So viel politisches Bewusstsein trifft man nur in Deutschland. Groß sieht sich als Sozialdemokrat mit Herz und Seele und will den alten Klassenkampf – von dem die SPD sich im Godesberger Programm 1959 distanzierte – gerne führen. Er äußert Bedenken gegen die „Verhübschung“ der ostdeutschen Städte und erinnert an die trostlosen Plattenbauten, die es in Erfurt noch immer gibt, während die historische Altstadt vor allem von Wessis bewohnt wird. Rechtsradikale und Neonazis, denen es Spaß macht, Schrecken zu verbreiten, haben in den Plattenbau-Vierteln ihre Anhänger und bringen Thüringen und dem gesamten Osten einen schlechten Ruf. Das heißt aber nicht, dass es solche Typen in westlichen Städten, wie Gelsenkirchen und Dortmund, die ebenfalls im Strukturwandel sind, nicht gibt. Dabei war Erfurt, anders als die Städte im Ruhrgebiet, nie eine echte Arbeiterstadt. Schwerindustrie gab es in der alten deutschen Kulturlandschaft Thüringen (Eisenach, Gotha und Weimar sind um die Ecke) nicht.““
„Wandel durch Annäherung“
Erfurt zieht Touristen an, doch die wandeln eher auf den Spuren Martin Luthers als auf jenen der alten Marxisten, die früher die SPD führten. Für die Klassiker der Linken ist man bei Dr. Wolfgang Beese (69), Naturwissenschaftler und Philosoph, an der richtigen Adresse. Er hat die abgeriegelte DDR noch gekannt, war SED-Mitglied und fasziniert von Dissidenten wie Robert Havemann (1910-1982). Beese war immer ein Freigeist, arbeitete nach der Wende einige Jahre als Hochschullehrer an einer amerikanischen Universität und hat seine Streitigkeiten mit der SPD, die er dennoch liebt und die er seit den 90er-Jahren als unabhängiger Sozialdemokrat im Stadtrat vertritt.
Als wir auf die Ostpolitik von Willy Brandt zu sprechen kommen, die 1970 mit einem Besuch in Erfurt begonnen hatte, zeigt Beese sich begeistert vom damaligen Konzept „Wandel durch Annäherung“, erdacht von Egon Bahr, Brandts strategischem Berater für Sicherheitsfragen und Außenpolitik. Obwohl die Ostpolitik bei den westlichen Verbündeten auf Bedenken stieß (Henry Kissinger sah seinen alten Studienfreund Egon Bahr als konservativen Deutschnationalen an mit einer Vorliebe für gute Beziehungen nach Moskau, wo der Schlüssel der deutschen Einheit lag), ist die Annäherung an Ost-Europa, die auch eine Anerkennung der deutschen Kriegsschuld und die Verbrechen der Nazis bedeutete, als historisch wichtigster und intellektuell einzigartiger Beitrag der SPD in der Nachkriegszeit zu schätzen. Nicht nur für Deutschland, sondern für das geteilte Europa insgesamt bedeutete diese Entspannungspolitik ein Aufatmen. Es brauchte einen unabhängigen Geist, um diese real existierende Mauer zwischen Ost und West, als „antifaschistischer Schutzwall“ von Grenzsoldaten und Volkspolizisten der DDR verteidigt, zu durchbrechen. Es war kein Zufall, dass die Sozialdemokraten diesen „dritten Weg“ verkörperten, der als europäische Friedenspolitik in die Geschichte eingegangen ist und in den achtziger Jahren von der CDU übernommen wurde.
Die deutschen Sozialdemokraten gerieten immer wieder zwischen die Fronten
Gerade die deutschen Sozialdemokraten gerieten immer wieder zwischen alle Fronten: zwischen Ost und West, zwischen Arbeit und Kapital, zwischen kommunistischer Welt und dem bürgerlichen Lager. Heute drohen sie wieder in die Zwickmühle zu geraten durch den Aufmarsch der AfD, die sich am Anfang als typisch deutsche Professorenpartei mit Kritik am Euro und an der Zinspolitik der EZB darstellte, aber mit ihrer nationalistischen Politik — im Gegensatz zu der auf europäische Versöhnung ausgerichteten SPD — gar keine dauerhafte Alternative für Deutschland sein kann.
Darum kommt es mir bei aller jetzigen Nostalgie und Ostalgie, die auch „Nie wieder Krieg“ bedeutet, seltsam vor, dass die SPD sich in der alten Heimat Thüringen so ungemütlich fühlt. Vielleicht sehnen wir uns bald, wenn Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin ist und die SPD als Volkspartei abgedankt hat, in ganz Europa nach der guten alten Groko zurück. Denn so schlimm war sie, sage ich als Mann der Vernunft und politischen Kompromisse in Europa, nun auch wieder nicht.
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Dirk-Jan van Baar ist Journalist und Historiker in den Niederlanden und Mitglied der Basisgruppe von „Wir sind Europa“.
Fotos: Jacob Schröter