Was gibt es eigentlich noch zu versöhnen?

Dirk-Jan van Baar

Populisten leben von dem Gefühl, früher sei alles besser gewesen. Warum Volksparteien genau hier anknüpfen können und was dies mit Erfurt zu tun hat.

Von Dirk-Jan van Baar  Über Deutschland lesen wir immer, dass es so nicht weitergehen könne. Das Land stehe vor einer kollektiven Depression und die etablierten Volksparteien versänken im Morast der Meinungsumfragen. Diese Stimmung habe ich auch in Erfurt gespürt, der Hauptstadt des ostdeutschen Bundeslandes Thüringen und der Ort, an dem die SPD auf einem Parteitag im Jahr 1891 ihren heutigen Namen erhielt. Es ist das Kernland der deutschen Sozialdemokratie, die 1863 im benachbarten Gotha ihren Anfang nahm und auf anderthalb Jahrhunderte bewegter Geschichte zurückblicken kann.

Die Demokratie als Wagnis

Die SPD scheint mit einem Bein im Grab zu stehen. Jeder, den ich in Erfurt fragte, kannte nur SPD-Mitglieder, die gegen eine weitere Große Koalition unter Angela Merkel waren, erwartete aber, dass die SPD aus Angst vor Neuwahlen für die Macht stimmen werde. Das weist auf einen anderen Gemütszustand hin als ein halbes Jahrhundert zuvor, als Willy Brandt von „mehr Demokratie wagen“ sprach (obwohl es bemerkenswert bleibt, dass die Demokratie in Deutschland schon damals als Wagnis angesehen wurde). 1970 legte er als Bundeskanzler mit seinem Besuch in Erfurt auch den Grundstein für seine berühmte Ostpolitik, die dem Frieden und der Versöhnung in Europa den Weg bereitete. „Willy Brandt ans Fenster“, steht in großen Buchstaben auf dem Dach des Hotels am Hauptbahnhof, wo der Kanzler sich der jubelnden Bevölkerung auf dem Balkon nur kurz zeigte, um seine kommunistischen Gastgeber nicht zu sehr in Verlegenheit zu bringen.

Dirk-Jan van Baar ist niederländischer Historiker und Journalist.

Das waren andere Zeiten: Während des Kalten Krieges konnte man noch annehmen, dass die Menschen auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs nach Freiheit verlangten und in der SPD die beste Alternative für Deutschland sähen. Die Enttäuschung aber kam schon 1990, als die Menschen in den alten SPD-Hochburgen Sachsen und Thüringen bei den ersten freien Wahlen der CDU von Helmut Kohl den Vorzug gaben. Und jetzt hören wir, dass die AfD die logische Alternative für die SPD sei, da die Sozialdemokratie auch in Deutschland den Kontakt zu den normalen Bürgern verloren habe. Dies wird dargestellt als unabwendbare Entwicklung, etwa wie die europäische Einigung, die bei näherem Hinsehen enttäuscht und nach all den Krisen der vergangenen Jahre nicht mehr automatisch auf die Gunst des Volkes zählen kann. Gehört die Zukunft den Populisten, und sind die alten europäischen Volksparteien dem demokratischen Untergang geweiht? Mit dieser Frage im Hinterkopf bin ich nach Erfurt gereist, wohin ich für eine Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern über Europa eingeladen worden war. Das Projekt heißt „Wir sind Europa“, das ich für mich als „Europa der guten Absichten“ übersetze und das von unten her die Menschen für eine Sache interessieren will, die größer ist als sie selbst. Hier liegt auch der Knackpunkt, denn Europa ist ein Projekt der Eliten und wird sich immer dem einfachen Mann auf der Straße entziehen, was die EU zum dankbaren Ziel für Populisten macht.

Nie wieder Krieg mit Russland

Das soll aber nicht heißen, dass normale Bürger keine Vorstellungen von Geopolitik haben. In Erfurt erfuhr ich, dass Ostdeutsche erfahrungsgemäß großen Wert auf gute Beziehungen zu Russland legen, mit dem es nie wieder Krieg geben dürfe. Wessis seien pro-amerikanisch. Zudem wird nicht verstanden, warum die Türkei in Syrien Dinge tun darf, für die es nach internationalem Recht keine Grundlage gibt, und warum Russland vom Westen verurteilt wird. Auch wurde mir versichert, dass die gegenseitigen Beziehungen mit Polen, Tschechen und Ungarn (die populistische Regierungen haben) großartig seien, eine bessere Nachbarschaft gebe es nicht. Was gibt es da also noch zu versöhnen? So kamen wir also über Brandts Ostpolitik zu den heißen Eisen von heute, die sich ähnlich wie in den Niederlanden auch in Erfurt um die Schlagwörter Islam, Einwanderung und Integration drehen. Was dies betrifft, kann man auch in Deutschland von einer Normalisierung sprechen.

Ostalgie und stabiler Wohlstand

Vergessen wir aber nicht, dass die Ostdeutschen 1990 aus freiem Willen für die Fleischtöpfe des Westens und den Beitritt zur Bundesrepublik stimmten. Die DDR, der verschwundene Staat, macht Deutschland anders, und ungeachtet der blühenden Landschaften, die es tatsächlich gibt, spürt man in Regionen wie Thüringen einen Drang zu existenzieller Sicherheit und sozialer Geborgenheit. Das Gefühl, benachteiligt zu sein, bereitet der AfD den Boden. Doch wer genau zuhört, stellt fest, dass die klassische Umverteilungspolitik immer noch aktuell ist. Dies bleibt ein Spezialgebiet der in der Bundesrepublik verwurzelten Volksparteien, wie ausgezehrt sie auch sein mögen. Die Sehnsucht nach der ehemaligen DDR, Ostalgie, gibt es wohl, sie ebbt aber ab. Zumal Nostalgie zwar Trost spendet, der stabile Wohlstand der Merkel-Jahre dagegen Halt gibt. Das klingt nach „Weiter so“. Populisten leben von dem Gefühl, dass früher alles besser gewesen sei und das nationale Erbe verkümmere. Es wäre dann doch verrückt, wenn ausgerechnet die CDU und die SPD entsorgt würden, jene beiden Volksparteien, die in Deutschland die erfolgreichste Sozialdemokratie Europas geschaffen haben. — Dirk-Jan van Baar ist Journalist und Historiker in den Niederlanden und Mitglied der Basisgruppe von “Wir sind Europa”. Dieser Artikel erschien zuerst als Meinungsbeitrag in der niederländischen Zeitung “Volkskrant” am 04. März 2018 unter dem Titel: “Populisten leven van het gevoel dat vroeger alles beter was”.  Übersetzung: Katharina Krüger Fotos: Jacob Schroeter, Jule Halsinger