Nicht nur Nord Stream 2. Ein neues deutsch-polnisches Problem an der Ostsee

Lukasz Grajewski

Polen will einen Containerhafen in Świnoujście bauen. Ein strategisches Projekt – meinen die Befürworter. Die deutschen Nachbarn sind erzürnt und verweisen auf mögliche negative Auswirkungen für Natur und Tourismus.

Anm. d. Red.: Die Reportage ist vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine entstanden. Aus diesem Grund wird der Krieg an dieser Stelle nicht thematisiert.

Reportage und Fotos von Lukasz Grajewski

Bansin, Heringsdorf, Ahlbeck. Die Kaiserbäder auf der Ostseeinsel Usedom. Bei einem Spaziergang entlang des Sandstrandes lassen sich an einem Tag alle drei Orte besuchen. Einmal in Ahlbeck angekommen, lohnt es sich jedoch, noch weiter zu gehen. Die Landschaft bleibt gleich schön, auch der Strand und das Meer sind dieselben. Nach gut einer Stunde Fußmarsch ist man dann in Świnoujście, in Polen.

Am schnellsten mit der Deutschen Bahn

„Entweder steige ich ins Auto und bin in zehn Minuten in Heringsdorf bei der Bürgermeisterin, um einen Kaffee zu trinken. Oder sie kommt oft zu mir.” Janusz Żmurkiewicz unterstreicht gleich zu Beginn des Gesprächs, wie eng die Zusammenarbeit an der Grenze ist. Der 73-Jährige ist ein echter Veteran polnischer Kommunalpolitik. 1984 wurde er zum ersten Mal Bürgermeister von Świnoujście. In den 1990er Jahren legte er eine Pause ein. Erst segelte er als Seemann um die Welt. Dann gründete er sein eigenes Unternehmen. Damals träumten viele Polen davon, den amerikanischen Traum „vom Tellerwäscher zum Milliardär“ zu verwirklichen. Im Jahr 2002 kehrte Żmurkiewicz in das höchste Amt der Stadt zurück und ist bis heute Bürgermeister.

Żmurkiewicz entspricht einem bestimmten Archetyp polnischer Kommunalbeamter, die in den Städten, die sie regieren, seit Jahrzehnten beliebt sind. Sie sind gute Manager und haben die Finanzen der Stadt im Blick. Ihr Motto: „Man muss investieren”. Der Beitritt zur Europäischen Union war für Żmurkiewicz wie Wind in den Segeln. Dank umfangreicher EU-Mittel hat sich auch seine Stadt entwickelt: Straßen wurden gebaut und neue, ebene Bürgersteige angelegt. Schulen und Amtsgebäude wurden renoviert. Neue Busse gekauft. Es gibt wohl kaum einen städtischen Raum, der nicht mit EU-Mitteln gefördert wurde. Es ist diese Welle der externen Finanzierung, mit der die EU in Polen am meisten in Verbindung gebracht wird.

Das Stadtamt, in dem Żmurkiewicz arbeitet, ist vom Bahnhof „Świnoujście Centrum“ aus in wenigen Minuten zu erreichen. Aber dort kommt kein polnischer Zug an. Der größte Teil von Świnoujście ist durch den Fluss Swine vom Rest des Landes getrennt. Wenn man mit dem Zug oder mit dem Auto auf die linke Seite der Küste fährt, muss man noch eine Fähre nehmen, um ins Zentrum zu kommen. Der Zugang von der deutschen Seite ist viel einfacher. Es gibt eine feste Verbindung, die von der Deutschen Bahn betrieben wird. Von Berlin ist Świnoujście schneller zu erreichen als von den meisten polnischen Städten. Dies ist der Infrastruktur aus der Zeit zu verdanken als die Stadt, damals Swinemünde, wie fast ganz Pommern zu Deutschland gehörte.

Zuallererst: Investieren!

Im Büro zeigt Żmurkiewicz auf einen der schwarzen Ledersessel. „Hier sitzt immer die Bürgermeisterin”, sagt er. Auch ihre Vorgänger saßen schon hier. „Die Zusammenarbeit mit der deutschen Seite entwickelt sich gut”, sagt er überzeugt. Er spielt Tennis mit der Bürgermeisterin von Heringsdorf. Wenn er darüber erzählt, versucht er sich an den Nachnamen zu erinnern. Der Pressesprecher, der neben ihm sitzt, hilft ihm. Marisken, Laura Isabelle Marisken heißt sie.

Der Bürgermeister von Świnoujście, Janusz Żmurkiewicz
Der Bürgermeister von Świnoujście, Janusz Żmurkiewicz, in seinem Büro

„Ohne Investitionen gibt es keine Entwicklung”, meint Żmurkiewicz mit Inbrunst. Die Zusammenarbeit mit der deutschen Seite sieht er vor allem in der Beantragung und Umsetzung gemeinsamer, von der EU geförderter Projekte. Wie etwa eine Kläranlage, die auf polnischer Seite gebaut wurde, die auch Abwässer der Deutschen reinigt; oder die Promenade, die beide Küstenabschnitte entlang der Ostsee verbindet; Schulen, die auf beiden Seiten der Grenze renoviert wurden, weil gemeinsame Anträge gestellt wurden. Dies sind sichtbare und greifbare Veränderungen. „Wir brauchen neue Themen, neue Projekte“, plant Żmurkiewicz weiter. Und nennt eine potenzielle Müllverbrennungsanlage als Beispiel.

Żmurkiewiczs‘ Vision geht jedoch noch weiter. Der Bürgermeister befürwortet die Baupläne eines Containerhafens, in dem 400 Meter lange Schiffe mit Waren und Rohstoffen aus aller Welt anlegen sollen. Für Żmurkiewicz wäre dies ein Schritt in Richtung Rückkehr zu den „glorreichen Jahren”. „Świnoujście hat immer auf zwei Beinen gestanden. Das linke Ufer war ein Kurort und das rechte Ufer war industriell geprägt”, erklärt er. In den 1970er und 1980er Jahren gab es in Świnoujście einen Hafen, eine Werft und den Fischereikomplex „Odra”, in dem fast 5.000 Menschen beschäftigt waren.

Der Hafen ist auch heute noch in Betrieb. Aber die Werft und der Fischereikomplex sind schon lange stillgelegt. 2015 wurde ein Gasterminal eröffnet, womit Polen zunehmend abhängig von Gaslieferungen aus Russland wurde. Im Zusammenhang mit dem Gasterminal hat es auf beiden Seiten der Grenze bereits viel Verwirrung und Proteste gegeben. Die Investition wurde in einem Natura-2000-Gebiet getätigt, das in der EU wegen seines wertvollen und gleichzeitig gefährdeten Naturerbes besonders geschützt ist. Die Gegner des Hafenbaus erinnern den Stadtpräsidenten daran, dass er schon damals versprochen hatte, dass das Gasterminal die letzte derart große Investition in der Region sein würde. Żmurkiewicz selbst behauptet, dass er solche Versprechen nie gemacht habe.

Polen ist souverän

„Unsere Gemeinde bewertet die Baupläne für den Containerhafen sehr kritisch”, sagt Laura Isabelle Marisken bei einem Treffen im Ahlbecker Rathaus. Die 33-jährige parteilose Politikerin sorgte für eine Überraschung, als sie 2019 zur Bürgermeisterin der Gemeinde Heringsdorf, zu der auch Ahlbeck und Bansin gehören, gewählt wurde.

Auch sie empfindet die deutsch-polnische Zusammenarbeit als sehr positiv. Sie bestätigt auch die gemeinsamen Tennisspiele mit dem Präsidenten. „Żmurkiewicz ist ein sehr guter Spieler”, lächelt sie. Sie hat täglich mit den Behörden in Świnoujście per SMS Informationen über die Corona-Neuinfektionen ausgetauscht, als die Grenze zwischen Ahlbeck und Świnoujście in der ersten Welle geschlossen wurde.

Die Bürgermeisterin der Gemeinde Heringsdorf, Laura Isabelle Marisken, vor dem Rathaus in Ahlbeck

Das Problem bei der Kommunikation ist jedoch die Sprachbarriere. Marisken spricht nur ein paar Brocken Polnisch. Auch Żmurkiewicz spricht kein Deutsch. Beide betonen, vielleicht auch deswegen, wie wichtig es ihnen sei, dass in den Kindergärten auf beiden Seiten der Grenze schon von klein auf die Sprache des Nachbarn gelehrt werde.

Doch beim Thema Containerhafen scheint die Harmonie zwischen den beiden aufzuhören. „Der Containerhafen ist eines der wenigen Projekte, bei denen wir völlig unterschiedliche Meinungen haben“, sagt die deutsche Bürgermeisterin. „Es wird befürchtet, dass die Investition gegen EU-Umweltstandards verstößt”. Marisken listet eine ganze Reihe potenzieller Risiken auf: „Experten befürchten, dass der Hafen die Küstenlinie verändern und Flora und Fauna sowie die Meeresströmungen beeinträchtigen könnte. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die im Hafen ankommenden Waren dann per LKW über unsere Insel transportiert werden.”

Der Streit um den Hafen ist ein Konflikt um den grundsätzlichen Charakter der Insel, aber auch ein Ausdruck des Wettbewerbs, den beide Seiten miteinander führen. Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck auf deutscher Seite sind kleine, charmante Orte. Die dezente Spa-ähnliche Holzarchitektur unterstreicht den exklusiven Charakter der einstigen kaiserlichen Drei. Diejenigen, die auf der deutschen Seite ihren Urlaub verbringen, sind zu 98 Prozent inländische Touristen. Aber Deutsche entscheiden sich zunehmend auch für Świnoujście.

Die polnische Seite ist lauter, die Lichter auf den Promenaden leuchten in vielen Farben, es gibt mehr von allem. Es ist kitschig und gemütlich zugleich. Und es ist billiger. Die Infrastruktur hat sich den deutschen Gästen angepasst: Schilder und Speisekarten sind in deutscher Sprache verfasst und die meisten polnischen Angestellten sprechen Deutsch. Man kann überall in Euro bezahlen.

An einem spätsommerlichen Septembertag werden die Unterschiede beider Seiten vor allem am Abend sichtbar: Auf der polnischen Seite ist die Promenade nach wie vor von überwiegend deutschen Touristen bevölkert. In Heringsdorf ist es draußen bereits recht leer. Die Touristen, vor allem die über 60-Jährigen, sind in den geschmackvoll eingerichteten Hotelrestaurants anzutreffen.

„Sie kommen zu uns wegen der Ruhe und der Nähe zur Natur. Wir wollen nicht, dass unsere Gäste große Containerschiffe am Horizont sehen”, sagt eine Wohnungseigentümerin in Ahlbeck. „Die riesigen Schiffe können das Meer verschmutzen. Und wir leben nur vom Tourismus”.

Polen und auch Świnoujście sind souverän”, betont Laura Isabelle Marisken. „Und wir müssen die Entscheidung unserer Nachbarn respektieren, auch wenn wir nicht mit ihr einverstanden sind. Aber es gibt auch gemeinsame, für alle verbindliche Spielregeln, an die wir uns halten müssen. Ich sorge dafür, dass die europarechtlichen Vorgaben bei mir zu Hause eingehalten werden und verlange das Gleiche von meinem Nachbarn. Und dabei ist es mir egal, ob es sich um ein Projekt auf polnischer oder deutscher Seite handelt.”

Ein Problem wie in Turów

Die lokalen Organisationen in Heringsdorf sehen das noch kritischer. Anführer und Vordenker der lokalen Proteste ist Dr. Rainer Sauerwein, ein pensionierter Physiker, der sich für den Umweltschutz einsetzt. Kurz vor Beginn des Gesprächs legt er ein siebenseitiges Dokument mit Argumenten gegen den Bau des Hafens auf den Tisch. Die Kritik wird durch zahlreiche Verweise auf gesetzliche Regelungen gestützt. Die „Bürgerinitiative Lebensraum Vorpommern”, die Sauerwein vertritt, hat bereits vor einigen Jahren Pläne zu Gasbohrungen auf der Insel Usedom blockiert. Der Mann hofft auch im Falle des Hafens auf einen Erfolg. Er hat bereits Politiker in Schwerin, Berlin und Brüssel über die möglichen Risiken informiert.

Dr. Rainer Sauerwein ist in der Protestbewegegung gegen den geplanten Hafen aktiv

Der Ahlbecker bezweifelt die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Investition: „Für die Entwicklung eines solchen Hafens wird ein externer Investor benötigt, der sich bisher nicht gefunden hat. Außerdem müsste sich eine der großen Containerschiff-Reedereien für die Nutzung eines solchen Hafens entscheiden. Auch hierüber ist noch nichts bekannt“, sagt Sauerwein. „Des Weiteren ist es unsicher, ob die Containerumschlagzahlen für die nächsten Jahre ähnlich ansteigen werden wie für die Jahre 2017-2018“, ergänzt er.

Der Mann spricht von Großmachtambitionen der polnischen Regierung und dem Versuch, EU-Mittel für eine Investition zu erhalten, die nicht nur der Umwelt schaden wird, sondern zudem keine Aussicht auf Rentabilität hat. „Dieser Hafenbau könnte ein ebenso großes Problem darstellen wie das Bergwerk in Turów, wenn Polen die europäischen Umweltverträglichkeitsprüfungsrichtlinien – wie in Turów – nicht korrekt anwendet“, sagt er und bezieht sich dabei auf den Streit um das polnische Braunkohlebergwerk Turów an der polnisch-tschechischen Grenze.

Hände weg

Der Strand Warszów zählt zu den Natura 2000 Schutzgebieten

Um von Heringsdorf zu dem Ort zu gelangen, an dem der Hafen möglicherweise gebaut wird, reicht es nicht aus, die Landesgrenze zu Fuß zu überqueren. Eine Überfahrt mit einer Fähre über den Fluss Swine ist nötig. Zunächst kommt man an Hafenkränen und an den Silos des Gasterminals vorbei. Hat man die Silos 15 Minuten hinter sich gelassen, beginnt eine Zone der Ruhe. Der Strand erstreckt sich kilometerweit. Schwer vorstellbar, dass dies durch einen Hafen verbaut werden könnte. Noch ist die Gegend eine Oase für Naturfotografen. Auf einem Waldweg macht ein Anwohner einen Schnappschuss eines Mäusebussards, der scheinbar geduldig auf einem 20 Meter entfernten Ast für das Foto posiert. In Wassernähe fotografiert ein deutsches Paar winzige Vögel, die auf von Meereswellen umspülten Steinen herumstelzen. „Es ist ein Alpenstrandläufer”, erklärt die Hobby-Ornithologin.

Ein paar Hundert Meter weiter später beginnt der Strand Warszów, wie die rechte Seite von Świnoujście auch genannt wird. Es ist ein unberührter Flecken Erde. Hier gibt es keine Menschenmassen wie auf den Stränden der Westküste. Hier kann man ungestört seine Füße ins Meerwasser tauchen, den Blick auf den Horizont richtend. Nur der Wellenbrecher des Gasterminals, der den Blick nach Westen versperrt, durchbricht das idyllische Bild. Nach Osten wird der Blick bis aufs polnische Międzyzdroje frei.

Am Strand sammeln diese Anwohnerin Bernstein

Eine ältere Frau durchkämmt den Sand mit einer Harke – immer dort, wo die Wellen anspülen und seichte Pfützen bilden. Sie ist so sehr auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie kaum Zeit für Antworten findet. Was machen Sie? „Ich bin auf der Suche nach Bernstein”. Und findet man hier viel? Statt zu antworten, zeigt sie auf eine Plastikbox, in der bereits mehrere Dutzend dunkelbraune Steinchen liegen. Anna, die in der Nähe lebt, sammelt Bernstein und legt ihn dann zwei Monate lang in Spiritus ein. Die Mischung reibt sie dann in ihre Haut ein. „Es hilft bei Rheuma”, sagt sie. Ob sie wisse, dass hier ein Hafen gebaut werden soll? „Ja“. Befürwortet sie die Idee? „Nein“. Aber es könnten Arbeitsplätze entstehen. „Aber ich brauche keinen. Ich will den Strand”, antwortet sie und bückt sich wieder, um weiter nach Bernstein zu schürfen.  

Am Eingang zum Strand auf dem Betonweg hat jemand auf Polnisch in großen Buchstaben mit weißer Farbe „Hände weg von unserem Strand und Wald” geschrieben. Direkt daneben befindet sich eine rote Tafel mit der Aufschrift „NATURA 2000 GEBIET”.

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Zurück auf der linksufrigen Seite der Stadt. Der Inhaber eines Fahrradverleihs teilt seine Meinung gerne: „Es ist beschlossene Sache. Dieses Projekt hat von Warschau grünes Licht erhalten, da es aus staatlicher Sicht von strategischer Bedeutung ist. Und es geht nicht um die regierende PiS-Partei”, fügt er hinzu. Tatsächlich genügt ein Blick in das Abstimmungsarchiv des polnischen Parlaments: Fast alle, Regierung und Opposition, stimmten für das Sondergesetz, das unter anderem den Weg für die Vorbereitung der Investition ebnete. „Die Deutschen haben uns auch nicht nach unserer Meinung zu Nord Stream II gefragt”, fügt der Mann spöttisch hinzu.

Anfang Oktober wurde bekannt, dass sich drei Unternehmen um den Bau und Betrieb eines Containerhafens beworben haben. Es ist nicht bekannt, wie seriös diese Angebote sind. Sicher ist aber schon jetzt, dass das Thema die deutsch-polnischen Beziehungen an der Ostsee in den kommenden Jahren belasten wird.

Łukasz Grajewski ( geb. 1985) studierte Kulturwissenschaften an der Universität Warschau. Seit 2010 ist er als Journalist und Redakteur tätig und arbeitet seit 2017 als Deutschlandkorrespondent für polnische Medien. In den Jahren 2018 und 2021 war er für den Deutsch-Polnischen Journalistenpreis nominiert.