Das friesische Leeuwarden hat den Titel der Kulturhauptstadt in die Niederlande geholt – aber was macht es daraus? Wie steht das Land wirklich zur EU?
Von Koos van Houdt 1988, noch vor dem Fall der Mauer, war West-Berlin Europäische Kulturhauptstadt. Das hatte viel Einfluss auf die Stadt, sagt Sarah Maria Brech, Redakteurin bei der deutschen Tageszeitung „Welt“. Sie schreibt unter anderem über die Niederlande und Europa. Brech hielt einen Vortrag beim 30. Treffen des „EU-Netzwerkes Nord-Nederland“ in Leeuwarden, das in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstadt ist.
Deutschland kritisch gegenüber der EU
2014 arbeitete Brech als Stipendiatin des Deutsch-Niederländischen Journalistenaustausches für einige Monate beim NRC Handelsblad. Sie ist außerdem Mitglied der Initiative „Wir sind Europa“, die die Kluft zwischen Bürgern und EU-Politik überwinden will. Auch Onno Falkena, der als Journalist bei Omroep Fryslan arbeitet, ist Mitglied. Er hatte die Veranstaltung mit geplant und moderierte sie. Falkena erinnerte daran, dass die EU sich in einer Umbruchphase befindet. Im kommenden Jahr sind Europawahlen. Bei den letzten Wahlen 2014 war die Beteiligung in Berlin mit 46 Prozent übrigens etwas höher als in Leeuwarden (37 Prozent). Sarah Brech ist davon nicht beeindruckt. Falls die Niederländer denken, dass die Deutschen Europa mehr lieben, dann sehen sie das falsch, sagte sie in ihrem Vortrag. Sie führte das Beispiel von Martin Schulz an, der innerhalb eines Jahres alles verlor, was er in der europäischen und deutschen Politik erreicht hatte. Das überraschte sie ebenso wie viele Journalistenkollegen und zeigt auch, dass die Deutschen die EU viel kritischer sehen, als man in den Niederlanden vermutet.
Der deutsche Koalitionsvertrag steht zwar ganz im Zeichen von Europa, wogegen das Thema im niederländischen in einem Kapitel versteckt ist. Aber in der Praxis sind niederländische und deutsche Regierungspolitiker gar nicht so weit auseinander, berichtete sie. Vor allem Menschen aus ärmeren Schichten der deutschen Bevölkerung unterstützten den niederländischen Premier Rutte, der die Beiträge der Mitgliedsstaaten zum EU-Haushalt so niedrig wie möglich halten will. Es sieht zwar so aus, als sei Deutschland bereit, mehr Geld nach Brüssel zu schicken. In der Bevölkerung aber gibt es viel Widerstand dagegen. Nach der Europa-Rede Ruttes Anfang März bei der Bertelsmann-Stiftung stellten sich den deutschen Journalisten einige Fragen. Warum hielt er seine große Rede in Berlin? Was will er genau? Die meistgehörte Analyse sei: Er versucht den Widerstand der kleineren EU-Staaten gegen die Dominanz der großen anzuführen, sagte Brech. Sie fügte hinzu, dass die deutschen Journalisten sich jetzt fragten, was die deutsche Regierung eigentlich wolle. Steht sie wirklich eher bei Macron als bei Rutte? Einige Reaktionen deuteten darauf hin, dass das nicht stimmt. Es stellte sich sogar heraus, dass die deutsche Regierung vorab von Ruttes Ideen wusste.
Ist Leeuwarden eine Europäische (Kultur-)Hauptstadt?
Brechs Urteil über Leeuwarden als Kulturhauptstadt fiel gemischt aus. Es sei eine wunderschöne Stadt und es gebe viele gute Ideen und Projekte. Aber sie formulierte doch vorsichtig einige Fragen wie: Was machen die Leeuwardener, wenn das Jahr vorbei ist? Kann Leeuwarden für Europa langfristig etwas bedeuten? Wollt ihr, dass etwas bleibt? Momentan hat sie noch keine Antwort auf diese Fragen finden können.
Das war auch die Kritik von Wytze Russchen, dem Lobbyisten und berühmten Friesen in Brüssel. Man könne die Kulturhauptstadt als eine Möglichkeit begreifen, die Kluft zwischen EU und Bürger zu verkleinern, sagte er in seinem Vortrag. Aber wenn man etwa die Website der Provinz Friesland anschaue, finde man dort nichts darüber. Friesland habe nicht einmal einen eigenen Lobbyisten in Brüssel. Er skizzierte das Problem so: Die Welt ist ein gefährlicher Ort geworden. Der Bund zwischen USA und EU über die Nato besteht eigentlich nicht mehr. In dieser turbulenten Welt ist die EU machtlos. Sie hat zu wenig Geld und nicht die Mittel, sich zur Wehr zu setzen. Russchen sagte, dass er ein Freund der EU sei, aber er stellte auch fest, dass sie weder effektiv noch demokratisch sei. „Wir brauchen mehr Europa, mit einem Mehrwert für uns alle und mehr Einfluss. Aber wenn man das in den Niederlanden laut sagt, verliert man die Wahl.“ Das sehe man in Brüssel. Die niederländischen Politiker arbeiteten dort konstruktiv. Aber niederländischen Abgeordneten gelinge es nicht, die Bürger dafür zu begeistern. Und sobald Mark Rutte zurück sei in Den Haag, werde er zum Wahlkämpfer und finde die EU zu teuer. Dabei bezahlen wir im Schnitt 230 Euro pro Bürger und Jahr, nicht einmal einen Euro pro Tag. Dafür bekommen wir viel zurück, sagte Russchen. Für jeden ausgegebenen Euro kämen 1,50 Euro zurück, und der interne Markt bringe den Niederlanden acht Milliarden im Jahr. Aber gute Neuigkeiten produzierten nun einmal keine Schlagzeilen. Wenn es aber einen Skandal gebe – wie etwa jetzt die Ernennung von Martin Selmayr zum Generlasekretär der EU-Kommission – könne gar nicht genug berichtet werden.
Herausforderung Europa „all inclusive“
Dennoch lebe der europäische Gedanke in den Niederlanden. Aber die Bürger müssten den Aufstand wagen. Nicht mehr versuchen, über politische Parteien Einfluss auszuüben. „Daran glaube ich nicht mehr.“ Stattdessen müsste es neue politische Bewegungen geben. „Wenn wir uns jetzt nicht bewegen für Europa, könnte es in zehn Jahren keine EU mehr geben“, fürchtet er. Auch über Friesland und die Friesen äußerte er sich kritisch. Sie leben in einer Provinz, die dank der berühmten Kühe und Milchprodukte weltweit als starke Marke gilt. Friesen schließen niemanden aus, wenn es um die Verbreitung ihrer Kultur geht. Aber Leeuwarden mache als Kulturhauptstadt viel zu wenig Gebrauch von dieser starken Marke. Die Friesen versteckten sich noch immer sprichwörtlich hinter ihren Deichen. Natürlich dürften sie stolz sein, aber dabei niemand ausschließen. Nicht so wie etwa in Katalonien, wo Russchen eine Zeitlang lebte. „Da habe ich mich wirklich ausgeschlossen gefühlt, das ist ausschließender Nationalismus.“ Ja, die Leeuwardener Lobby war stark genug, um den Titel Kulturhauptstadt zu ergattern. Leeuwarden schlug dabei Eindhoven und Maastricht. Das bedeute schon etwas. Aber jetzt müssten die Friesen damit etwas anfangen. Die Kulturhauptstadt müsse Europa etwas zurückgeben. Bislang allerdings seien zu viele Chancen verpasst worden, sagte Russchen.
Der Beginn einer neuen Bewegung?
In der Diskussion mit den Zuschauern ging es zunächst um Flüchtlinge. Danach kam das Gespräch auf das Verhältnis zu Malta. Dort wurde im Oktober 2017 die Journalistin Daphne Caruana Galizia ermordet. Sie prangerte Korruption und organisiertes Verbrechen an. Maltas Hauptstadt Valletta ist in diesem Jahr ebenfalls Kulturhauptstadt. Warum wird in Friesland nicht mehr über den Mord gesprochen? Ist das Hemd einfach näher als der Rock? Oder ist die „Iepen Minskip“, das Motto der Kulturhauptstadt, das auf eine engagierte Gemeinschaft verweist, doch nicht so „iepen“? Dann ging es um die Rolle der Presse. Tierarzt Tjeerd Jorna fand den Vortrag von Russchen arg negativ. Ist das schlechte Image der EU nicht auch eine Folge dessen, wie und wie wenig über Brüssel geschrieben werde? Russchen sagte: „Schlechte Nachrichten verkaufen sich.“ Im Panel gab es keinen einheitlichen Lösungsansatz, der Rat lautete schließlich: „Tue Gutes und rede darüber, mache den Erfolg bekannt.“ Nach anderthalb Stunden Diskussion wurde das Gespräch an der Bar fortgeführt – und dabei fleißig über die anstehenden Wahlen spekuliert: Am 20. März 2019 finden Provinzwahlen in den Niederlanden statt, und am 23. Mai 2019 folgt die Europawahl. Wird es dann auch dort eine Bewegung geben wie „La Republique en Marche“ in Frankreich? — Koos van Houdt ist Vorsitzender des „EU-Netwerk Noord-Nederland“, das regelmäßig Lesungen und Debatten über die Europäische Union organisiert. Übersetzung: Sarah Maria Brech Fotos: „EU-Netwerk Noord-Nederland“; Onno Falkena