Hier wächst Europa zusammen

Kasia Goszcz

Europa muss an den Nähten funktionieren, so heißt es oft. Unsere Reporterin Kasia Goszcz wollte herausfinden, ob das der Fall ist und ist dorthin gefahren, wo viele Nähte zusammenlaufen: in die Dreiländerregion rund um Zittau, Bogatynia und Hradek nad Nisou. Dort ist sie auf Konflikte, Sprachbarrieren aber auch viele Hoffnungen und Potenziale in der Region gestoßen.

Anm. d. Red.: Die Reportage ist vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine entstanden. Aus diesem Grund wird der Krieg an dieser Stelle nicht thematisiert.
Von Kasia Goszcz

Im Dreiländereck grenzen die Städte Zittau (Żytawa), Bogatynia (Reichenau) und Hrádek nad Nisou aneinander: Zwischen ihnen verlaufen zugleich die Staatsgrenzen zwischen Polen, Deutschland und Tschechien. Schilder am Straßenrand weisen auf den Dreiländerpunkt hin. Die Grenze wird leicht und fast unmerklich überschritten. In einer malerischen Ecke, die an zwei Stellen von der Neiße und dem Ullersbach durchkreuzt wird, stehen drei Fahnen und ein Gedenkstein aus dem Jahr 2004, der verkündet: „Hier wächst Europa zusammen”.

Ich warte auf ein Treffen mit dem Bürgermeister von Zittau. Ich habe noch ein paar Minuten Zeit, also bleibe ich auf einer Bank vor dem Rathaus sitzen. Neben mir sitzt eine alte Dame mit einem Blumenstrauß. Ich frage sie: Lebt sie hier und besucht sie ab und zu Polen, das nur ein paar Kilometer entfernt liegt? Die 70-jährige Zittauerin erinnert sich an ihre Urlaube in Polen. Jetzt fährt sie hin und wieder zum Einkaufen hin, aber immer seltener, weil die Preise langsam ähnlich werden und es sich nicht mehr lohnt. Außerdem muss sie jetzt mit dem Bus fahren – sie hat Angst, das Auto zu nehmen, weil es gestohlen werden könnte.

Oberbürgermeister Thomas Zenker
Oberbürgermeister Thomas Zenker in seinem Büro in Zittau

Thomas Zenker, seit sechs Jahren Oberbürgermeister von Zittau. Er ist parteilos, seine Karriere begann mit seinem Engagement im Verein Zittau kann mehr e.V.. Er begrüßt mich enthusiastisch. Schon in den ersten Minuten wird deutlich, dass er sich seiner Aufgabe voll und ganz widmet.

Grenzregionen brauchen andere Regelungen für die Zusammenarbeit

In unserem Gespräch macht er deutlich, dass eines der wichtigsten Themen in der Region die Verbesserung der Infrastruktur ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Grenzen verschoben und Tausende von Menschen auf beiden Seiten vertrieben wurden, gab es lange Zeit keine Investitionen in der Region. Es herrschte chronische Ungewissheit: Würde die Grenze anerkannt werden und für wie lange? Nach 1990, mit dem Fall der Mauer, der Einführung einer neuen Währung und der Schließung der dominierenden Textilindustrie, kam es zu einem wirtschaftlichen Abstieg, der sich vor allem auf die Mentalität der Einwohner dauerhaft auswirkte. Auch die Ankündigung, dass die Braunkohlegruben geschlossen werden, trug nicht zur Stabilität bei. „Unsicherheit, Misstrauen und Entbehrungen sind immer noch in den Köpfen der Menschen”, räumt der Bürgermeister ein.

Wenn sich der demografische Wandel stärker bemerkbar macht und die Attraktivität einer Region für jüngere Generationen abnimmt, rücken Gesundheitsfragen in den Vordergrund. Immer weniger Menschen bleiben dauerhaft in der Region, das Durchschnittsalter steigt. Der Bürgermeister sieht hier eine starke Notwendigkeit, die Zusammenarbeit zwischen Polen, Tschechien und Deutschland zu intensivieren. Obwohl die drei Länder der Europäischen Union angehören, sind die Möglichkeiten der Zusammenarbeit in diesem Bereich sehr begrenzt und der administrative Aufwand scheint unüberwindbar. Die Zeit der Pandemie hat gezeigt, dass bürokratische Beschränkungen eine nachbarschaftliche Zusammenarbeit unmöglich machten, trotz des ausdrücklichen Wunsches zu helfen und zu kooperieren. „Grenzregionen brauchen andere Regelungen für die Zusammenarbeit als Zentralregionen”, betont Thomas Zenker. Das ist hier stark zu spüren.

Die Grenzregionen können in den Bereichen Kultur und Bildung mit gutem Beispiel vorangehen. Der Bürgermeister von Zittau betont die finanzielle Unterstützung durch die Europäische Union. Künstler haben viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit, und hier scheinen die Grenzen kein Hindernis zu sein. Kleine Projekte – meist kulturelle, soziale und sportliche Initiativen – funktionieren hervorragend. Große Projekte, für die eine politische Beteiligung und Finanzierung erforderlich ist, stoßen dagegen häufig auf Probleme. Ein Beispiel dafür ist das Bergwerk Turów in Polen.

Bergwerk Turów in Bogatynia
Das Bergwerk Turów in Bogatynia

Das Bergwerk und das Kraftwerk Turów gehören dem staatlichen Unternehmen PGE Górnictwo i Energetyka Konwencjonalna in Polen. Im Jahr 2020 wurde die Konzession für den Braunkohleabbau in Turów bis 2026 verlängert. Der Bergbau darf offiziell bis zum Jahr 2044 fortgesetzt werden. Die Konzession wurde in Übereinstimmung mit polnischem und europäischem Recht und nach grenzüberschreitenden Konsultationen mit der deutschen und tschechischen Seite sowie der Erstellung eines Umweltgutachtens erteilt.

Im Februar 2021 reichte die tschechische Seite in der Rechtssache Turów eine Klage gegen Polen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein und beantragte eine sogenannte vorläufige Maßnahme – ein Verbot des Bergbaus. Die Klage wurde im Zusammenhang mit der Erweiterung des Bergwerks eingereicht, durch die laut Prag die Bewohner von Liberec Gefahr liefen, von der Wasserversorgung abgeschnitten zu werden. Es folgte ein juristisches Tauziehen.

Drei Monate später folgte eine Anordnung des EuGH auf Antrag Tschechiens den Kohleabbau in Turów sofort einzustellen. Im September entschied der EuGH, dass Polen 500.000 Euro pro Tag an die Europäische Kommission zahlen muss, weil es keine einstweiligen Maßnahmen ergriffen hatte, um den Braunkohleabbau in der Grube Turów einzustellen.

„Wenn sie das Bergwerk schließen, wird Bogatynia von der Landkarte verschwinden“

(Aussage eines Einwohners von Bogatynia, der polnischen Nachbarstadt von Zittau.)

Mirosław Drewniacki
Mirosław Drewniacki, Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit und Förderung des Stadt- und Gemeindeamtes von Bogatynia

Das Bergwerk und Kraftwerk Turów ist der größte Arbeitgeber in der Region. Mirosław Drewniacki, Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit und Förderung des Stadt- und Gemeindeamtes von Bogatynia hat kein Verständnis für die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union. „Wer eine solche Entscheidung getroffen hat, hat sich nicht die Mühe gemacht zu prüfen, um welche Art von Betrieb es sich handelt und wie er funktioniert. Es dauert Jahre, ein Bergwerk zu schließen, das kann nicht von jetzt auf gleich geschehen.“ Er sieht in der Entscheidung eher politische Gründe, wie die Wahlen zur Abgeordnetenkammer in Tschechien. „Jeder hier und jeder in Polen versteht, dass der Bergbau nicht ewig dauern wird, dass wir uns auf erneuerbare Energiequellen zubewegen, aber das wird nicht von heute auf morgen geschehen können”, fügt er hinzu.

Sandra Apanasionek, Sprecherin von PGE Mining and Conventional Power Generation, bestätigt, dass die Dauer der Energiewende verlängert werden muss, die Mine kann nicht von heute auf morgen stillgelegt werden. Zu schnelle und abrupte Reformen sind unverantwortlich, und Polen ist sich solcher Beispiele nach der politischen Wende von 1989 wohl bewusst.

„Ein paar Dutzend Kilometer von Turów und sogar ein paar hundert Meter von der polnischen Grenze entfernt sind neun Braunkohletagebaue in Betrieb – fünf in Tschechien und vier in Deutschland –, und die EU erlaubt deren Betrieb trotz ihrer weitaus größeren Umweltbelastung“, fügt die PGE-Sprecherin hinzu.

Polen und die Tschechien haben im Februar dieses Jahres ein Abkommen unterzeichnet, in dem die Zusammenarbeit bei der Durchführung und Finanzierung von Maßnahmen zur Erkennung, Minimierung und Verhinderung von Auswirkungen des Bergbaus und der anschließenden Rekultivierungsarbeiten in der Grube Turów auf tschechischem Gebiet zugesagt wurde. Die von tschechischer Seite beim EuGH eingereichte Beschwerde wurde zurückgezogen. Der Konflikt um die Mine wurde zwar entschärft, aber das Thema bleibt bestehen.

*

Die Zukunft der Region könnte aber woanders liegen – im Tourismus, wie Miroslaw Drewniacki erläutert: „Bogatynia wird auch als das ‚Land der Fachwerkhäuser‘ bezeichnet, und hier liegt eine Chance für die Zukunft der Stadt als Zweig der Tourismusentwicklung.”

Fachwerkhäuser
Bogatynia wird auch als ‘Land der Fachwerkhäuser’ bezeichnet

Bei einem Spaziergang durch die Stadt zeigt mir Magdalena Kościańska vom polnischen Fernsehsender TV Bogatynia das Geburtshaus des zeitgenössischen deutschen Malers Gerhard Richter. Nur wenige Menschen wissen davon, es gibt keine Informationen am Gebäude oder in den städtischen Mitteilungsblättern. Das Künstlerdenkmal und die Produktion von Nachrichten in drei Sprachen sind Themen, mit denen sich die Journalistin beschäftigt und in denen sie Potenziale für die Entwicklung der Stadt sieht.

Das kleine Dreieck

Viele Menschen, mit denen ich während meines Besuchs in der Dreiländerregion gesprochen habe, können sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Sie sind stolz auf die Region – ein besonderer Ort, an dem drei Länder aufeinandertreffen, der international und interkulturell ist.

Fühlen sie sich deshalb europäischer? Sie scheinen die Frage nicht zu verstehen. Ja, sie sind Europäer – aber mehr als andere – das können sie nicht sagen.

Magdalena Kościańska
Magdalena Kościańska von TV Bogatynia

„Bei uns sind die lokalen Nachrichten gleichzeitig internationale Nachrichten”, sagt Magdalena Kościańska von TV Bogatynia „Wir sind hier eine Region, wir vermischen uns, wir bewegen uns. Wir sind eine durch Grenzen geteilte Region. Das Einzige, was uns einschränkt, sind die Sprachen und das Gesetz.“

Ich spaziere durch die Straßen von Zittau, in denen man hier und da verlassene Gebäude und leere Schaufenster entdeckt, und schließe mich einer Gruppe junger Leute an. Ich frage sie, ob sie Polnisch sprechen und ob sie nach Polen reisen.

Junge Menschen aus Zittau
Junge Menschen aus Zittau

Wie viele meiner Gesprächspartner zuvor sagen sie, dass sie hauptsächlich nach Polen fahren, um ihr Auto zu betanken und einzukaufen. Sie loben das polnische Essen. Ein Mädchen sagt, dass sie angefangen habe, Tschechisch zu lernen. Sie empfindet, dass die Deutschen oft arrogant sind und keine Fremdsprachen lernen. Viele Menschen aus Tschechien und Polen würden dagegen sehr gut Deutsch sprechen. Die anderen in der Gruppe reagieren etwas nervös und erklären, dass es in der Schule kein solches Angebot gebe, Tschechisch oder Polnisch zu lernen.

„Das Sprachangebot ist vorhanden, aber nicht ausreichend”, erläutert Mirosław Drewniacki vom Gemeindeamt Bogatynia, der zuvor als Polnischlehrer in Deutschland gearbeitet hat. Als positives Beispiel nennt er das polnisch-deutsche bikulturelle Gymnasium Augustum-Annen in Görlitz (Zgorzelec).

Frank Rischer, Kulturmanager in der Dreiländerregion, weist darauf hin, wie wichtig es ist, einen Raum der Begegnung zwischen den Menschen im Dreiländereck zu schaffen. Dazu gehören Dialog, Perspektivwechsel und die Erfahrung, in einer gemeinsamen Region zu leben. Das Wichtigste ist die Begegnung. Dies verändert auch die Art und Weise, wie wir über Europa denken; es ist nicht mehr nur ein abstrakter politischer Raum, sondern bietet Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen und mit anderen Erfahrungen. „Unsere Aufgabe ist es, Brücken zwischen den Köpfen und Herzen der Menschen zu bauen“, sagt Frank Rischer.

„Unsere Region ist auf beiden Seiten der Grenze geprägt von den Geschichten entwurzelter Menschen. Das wird unterschätzt, hat aber einen großen Einfluss auf die Mentalität dieser Gesellschaft”, betont Bürgermeister Zenker.

Touristik-Informationszentrum
Karina Dammert vom Touristik-Informationszentrum in Zittau

Ein Beispiel für eine gelungene polnisch-tschechisch-deutsche Zusammenarbeit ist das Touristeninformationszentrum in Zittau. Dort werden alle Informationen dreisprachig angeboten, die Mitarbeiterinnen kommen aus Polen, Deutschland und Tschechien. „Wir wollen die Kunden in dieser Region dreisprachig bedienen, denn davon profitieren alle”, sagt Karina Dammert, die im Tourismusinformationszentrum arbeitet.

Ich habe mit vielen Einwohnerinnen und Einwohnern von Zittau und Bogatynia gesprochen. Sie betonten, dass die enge Nachbarschaft mehr Möglichkeiten und Vorteile für alle schafft, während Probleme immer und überall auftreten. Nach Polen zum Einkaufen und Essen, zum Wandern in die tschechischen Berge und abends zum tschechischen Bier, an den See in Deutschland. So sieht das Leben in der Dreiländerregion aus.

Die Schließung der Grenzen, die die Bewohner während der Pandemie erlebten, war, wie sie selbst sagen, „das Ende der Welt”. Aufgrund der großen Zahl von im Ausland tätigen Menschen lähmte die temporäre Grenzschließung das Arbeitsleben. Eine Kellnerin in einem Restaurant in Bogatynia berichtet mir, dass die Armee mit scharfen Waffen auf den Straßen erschien, Grenzübergänge geschlossen und bewacht wurden. Eine Straße, die die Menschen zum Einkaufen oder als Weg zur Arbeit nutzten, war plötzlich abgesperrt. Für viele war dies die Tragödie ihres Lebens. Für Menschen, die in Deutschland oder Tschechien arbeiten, wurden plötzlich nationale Grenzen sichtbar, die ihnen ihre Verdienstmöglichkeiten nahmen. „Dies darf sich nicht wiederholen.“ Das sagen sie alle einstimmig.

Kasia Goszcz ist Journalistin und Voice Coach. Sie engagiert sich bei Projekten mit sozialem und europäischem Schwerpunkt. Ihr großes Interesse liegt im Bereich nachhaltige Entwicklung und Smart Cities. Kasia Goszcz stammt aus Polen und lebt in Berlin.

Fotos: Kasia Goszcz