Es genügt nicht mehr, Europa nur als abstrakte Idee gut zu finden. Wir müssen handeln, lautete das Fazit der Debatte „Open Space Europe“ in Greifswald. Sarah Maria Brech Ist es naiv, in diesen Tagen noch an die europäische Idee zu glauben? In einem Jahr, in dem Großbritannien sich auf den Austritt auf der EU vorbereitet und der US-Präsident die Staaten Europas als Gegner bezeichnet. In dem nicht mehr nur in Osteuropa Politiker regieren, die die Union lieber heute als morgen abschaffen oder zur reinen Freihandelszone degradieren würden. Ist es naiv – oder bleibt uns gar nichts anderes übrig?
„Wir sind die Eigentümer Europas“, sagte Volker Hassemer, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zukunft Berlin, in seiner Eröffnungsrede zum Open Space von „Wir sind Europa“ in Greifswald. „Das bedeutet, dass wir die Verantwortung für Europa tragen – und selbst liefern müssen. Und zwar vor Ort, in unseren Städten und Regionen.“ Nimmt man diese Worte ernst, dann bedeutet das: Es reicht nicht mehr, wie bisher nur alle fünf Jahre zur Europawahl zu gehen – obwohl selbst diese minimale Anstrengung schon mehr ist, als die meisten liefern wollen. Wer wirklich Verantwortung tragen will für Europa, muss handeln. Menschen zusammenbringen, diskutieren und daraus konkrete Ideen entwickeln. In Greifswald versuchten das knapp 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich bereits für Europa engagieren. Als Mitglieder von ELSA etwa, der European Law Students‘ Association, die internationale Austauschprogramme für Jurastudierende organisiert. Oder als Betreiber des Interkulturellen Cafés, in dem jeden Mittwoch Menschen zum gemeinsamen Spielen, Kaffeetrinken und Diskutieren zusammenkommen. Als Politiker in Bürgerschaft oder EU-Parlament, als Journalisten, die über Europa berichten, als Wissenschaftler, die grenzüberschreitend zusammenarbeiten. Sie alle glauben an Europa und versuchen, die abstrakte Idee einer EU als freier, fortschrittlicher und solidarischer Stimme in der Welt mit Leben zu füllen – ganz konkret, vor ihrer Haustür.
Erst mal die Flagge hissen
Der Greifswalder Oberbürgermeister Stefan Fassbinder (Grüne) etwa setzt sich seit seinem Amtsantritt 2015 norddeutsch-pragmatisch für Europa ein. Erst einmal ließ er die EU-Flagge vor dem Rathaus hissen. Jetzt hat er der Bürgerschaft ein Europabüro vorgeschlagen. Dessen Aufgabe: Es soll Bürger darüber beraten, wie sie das meiste aus Europa machen können, Fördergelder aus dem jährlich 137 Milliarden Euro schweren EU-Haushalt beantragen etwa oder an Austauschprogrammen teilnehmen. „Europa ist viel mehr als Brüssel“, sagte Fassbinder. „Wenn wir nicht Europa sind, können wir es auch lassen.“
Der Europaabgeordnete Arne Gericke (Freie Wähler) brachte beim Open Space eine weitere Idee ins Spiel. Er würde das kostenlose Interrailticket für Jugendliche – 15.000 davon verteilt die EU – gern um ein Kulturticket erweitern. Kostenlos im Nachbarland ins Theater, ins Museum oder in die Bibliothek, das könnte Fremdes vertrauter machen, Verständnis wecken – aber auch und vor allem: Freude bringen an Europa. Die Freude, die über all dem Gerangel um EU-Haushalt und Asylpolitik so vielen verloren gegangen ist.
Warum eher Skandinavien als Polen?
Die Ostdeutschen nämlich seien grundsätzlich keineswegs europamüde, sagte Jürgen Lippold, der nach der Wende die Europa-Union Mecklenburg-Vorpommern aufbaute. Lippold erlebt auf seinen regelmäßigen Fahrten in die Partnerländer, wie sehr sich die Norddeutschen für ihre Nachbarn interessieren. Überhaupt ging es in den Gesprächen viel um Nachbarschaft. Der nächste Nachbar für die Greifswalder ist Polen. Das Land, dessen Regierung gerade so EU-kritisch auftritt, liegt geografisch nahe. Aber es ist den Greifswaldern emotional nicht so nahe, wie es sein könnte, trotz jahrzehntelanger politischer Zusammenarbeit mit der Woiwodschaft Zachodniopomorskie und ihrer Hauptstadt Szczecin. Woran liegt das, fragten sich die Greifswalder an diesem Abend. Warum fahren wir eher nach Skandinavien als die paar Kilometer nach Osten? Vielleicht ist die Landschaft dort attraktiver, mutmaßten einige. Oder vielleicht haben sich doch ein paar Vorurteile gehalten.
Im Rathaus lernen sie jetzt Polnisch
Dabei ist es längst nicht mehr so, dass die einen nur kommen, um billig einzukaufen und die anderen, um billig zu arbeiten. Vielmehr wohnen inzwischen viele polnische Familien auf der deutschen Seite, arbeiten als Fachkräfte etwa in der Altenpflege, treten Vereinen bei und organisieren Feste mit. Auch in Greifswald, wie Bewohner des Hauses „Ostsee“ in einer „Wir sind Europa“-Diskussion am Vormittag erzählt hatten. Früher habe manch einer Polen schräg angeschaut, hieß es von den Senioren, aber mittlerweile nicht mehr – sie seien geschätzt und anerkannt, arbeiteten tüchtig. Die Stadt versucht, die Zusammenarbeit der Bürger weiter zu stärken, organisiert Städtepartnerschaften und Schüleraustausche, wie auch mit anderen europäischen Regionen. Monique Wölk, Mitglied der Greifswalder Bürgerschaft, erzählte vom „Polenmarkt“, der beliebten polnischen Kulturwoche, die Greifswald zusammen mit Szczecin organisiert. Und dann erzählte sie noch, dass im Rathaus gerade ein Sprachkurs organisiert wird. Mehrere Mitarbeiter lernen jetzt zusammen Polnisch. Es mag naiv sein, in diesen Tagen an die europäische Idee zu glauben. Aber die Greifswalder wissen: Es ist auch wichtiger denn je. — Sarah Maria Brech ist Journalistin in Berlin und Mitglied der Basisgruppe von „Wir sind Europa!“. Fotos: lensescape.org / Philipp Schroeder