Von Katharina Ratzmann
Der Brexit steht vor der Tür und rechtspopulistische Strömungen überall in Europa werden immer lauter. Noch sind wir zwar wohl nicht an einem Punkt, an dem der Friede innerhalb der Europäischen Union in akuter Gefahr ist. Doch wer sorgt dafür, dass das auch so bleibt?
Exakt 80 Jahre nach der Pogromnacht, als Nationalsozialisten in ganz Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte in Brand steckten, am 9. November, hält der Präsident des Europäischen Gerichtshofs eine Rede auf den Frieden. Es ist eine der großen, schwierigen Fragen des Lebens. Der Frieden, sagt Lenaerts, sei der Kern dessen, „was nicht die Welt, sondern Europa im Innersten zusammenhält“. Die Bühne, auf der er dabei steht, ist keine hundert Meter vom Brandenburger Tor entfernt, jenem imposanten Durchgang, der jahrzehntelang versperrt war und der heute umso mehr Symbolbild geworden ist – nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Einheit.
„Es geht nicht um Euro, Pfund oder Kronen, sondern darum, Krieg durch Frieden zu ersetzen“
Sicher sind in der Europäischen Union so einige Dinge greifbarer als die Prozesse am Europäischen Gerichtshof: Der Euro als gemeinsame Währung zum Beispiel, auch Austausch-Projekte wie Erasmus oder die Möglichkeit, von einem Land ins andere zu reisen, ohne an der Grenze kontrolliert zu werden. Trotzdem hält Norbert Lammert, der ehemalige Bundestagspräsident, Europa für mehr als eine „bequeme und liebgewordene Gelegenheit zu unkomplizierten gemeinsamen Begegnungen“. Er ist sich mit Lenaerts einig: Das, was wirklich ausschlaggebend ist, sei die gemeinsame Rechtsordnung. Für Lenaerts ist sie der „Fixstern“ der EU. Sie sei das entscheidend Neue, das dazu geführt habe, Europa ganz „ohne Gewalt und Unterwerfung“ zu einigen. Lenaerts zitiert Walter Hallstein, den ersten Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: „Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nie vermochten“.
„Der Europäische Gerichtshof – eine mächtige Entscheidungsinstanz und abhängige Reaktionsbehörde“
Welche Macht hat der Europäische Gerichtshof aber heute noch, in Europa für Frieden zu sorgen und dieses enorme Projekt vor dem Zersplittern zu bewahren? Seine Aufgabe ist es, aufzupassen, dass sich die Mitgliedsstaaten der Union an das gemeinsame Recht halten – unter anderem an Gesetze gegen Anti-Diskriminierung. Allerdings: Wo kein Kläger, da kein Richter.
„Ich stehe nie auf, auf (…) und sage: ‚Oh, es gibt vielleicht ein Problem mit der gleichgeschlechtlichen Ehe in Rumänien – das greife ich heute mal auf!‘“, sagt Koen Lenaerts. Ein Gericht verhandele schließlich nur Fälle, die ihm vorgelegt werden. Zwar landeten Krisenlagen früher oder später auf dem Schreibtisch des EuGH, trotzdem ist und bleibt er aber immer eine reaktive Behörde.
Während der gesamten Rede und auch bei der anschließenden Diskussion hält sich Lenaerts auffällig damit zurück, politisch Stellung zu beziehen. Logisch, in seiner Position als Repräsentant einer neutralen Instanz kann er sich das nicht erlauben. Einmal sagt er explizit, der Gerichtshof habe „weder in der Vergangenheit noch heute eine politische Agenda“. Trotzdem schwingt in seiner ganzen Rede unterschwellig eine Warnung mit: Lasst uns nicht die gleichen fatalen Fehler machen wie vor 80 Jahren.
„Dem Gesang der populistischen Sirenen die Stirn bieten“
In Bezug auf die aktuellen Entwicklungen in Europa sagt Lenaerts: „Als Garant der Rechtlichkeit wird der Europäische Gerichtshof weiterhin nicht nur jede einzelne Rechtssache in jeder Objektivität entscheiden, sondern auch in Zukunft dem Gesang der populistischen Sirenen die Stirn bieten, die uns auffordern, angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen auf Mittel zurückzugreifen, die in Wirklichkeit unsere gemeinsamen Werte bedrohen.“
Neben all den Aufgaben, die der Europäische Gerichtshof dabei zu erledigen hat, appelliert Lenaerts schließlich ganz besonders an die junge Generation. Die müsse ihr Europa selbst gestalten und mit sich ausmachen wie sie innerhalb der Europäischen Union leben will. Lenaerts führt aus: Ein Zusammenleben ohne Binnengrenzen erfordere, dass man mit anderen Demokratien zusammenarbeite. Das müsse „bottom-up kommen und nicht von oben von einer Elite auferlegt werden“. Es ist wohl kaum zu überhören, dass er zwischen den Zeilen auf das Brexit-Referendum anspricht, als er sagt, es sei schwierig, nicht zur Wahl zu gehen und später das Ergebnis zu bedauern. In dieser Art von Mitgestaltung liege die Zukunft Europas. Und sie liege nicht in seiner Hand. Sie liege in der Hand der Jugendlichen.
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Fotos: Marco Urban
Katharina Ratzmann arbeitet als Volontärin bei einem Radiosender und ist zudem Mitglied der Basisgruppe von „Wir sind Europa“. Die Europa-Rede findet jährlich am 9. November in Berlin statt, in Kooperation von Konrad-Adenauer-Stiftung, Stiftung Zukunft Berlin, Schwarzkopf Stiftung sowie „Wir sind Europa!“.