“Europa ist wichtig, aber Deutschland kann nicht nur zahlen”

Onno Falkena

Senioren in Greifswald halten die EU für eine gute Sache, doch gebe es noch viel zu tun. Dabei sehen sie die Verantwortung auch bei den Bürgern selbst. Von Onno Falkena Diskussion mit sechs Senioren und vier Mitgliedern der Basisgruppe von “Wir sind Europa” in der betreuten Wohnanlage „Haus Ostsee“: Die Atmosphäre ist gut, sogar locker. Die Anwesenden sind neugierig und bereit, ihre Meinung zu sagen. Sie sprechen frei, diskutieren, sind auch mitunter nicht einverstanden. Wenn die Männer anfangen, nur miteinander zu reden, werden sie sofort von den Frauen korrigiert. Alle nennen einander beim Vornamen und benutzen das „Sie“.  Der Raum im „Haus Ostsee“ hat eine „Ostalgie-Wand“ mit Bildern von Trabis und DDR-Helden wie Sigmund Jähn, Katarina Witt und Erich Honecker. Nicht unwichtig, weil Teil der Geschichte der Mitbewohner.

EU-Parlament sollte nicht mehr umziehen

Onno Falkena
Onno Falkena ist niederländischer Journalist und begleitet die Initiative “Wir sind Europa” von Beginn an. (Foto: lensescape.org / Philipp Schroeder)

Mehrere Seniorinnen sind aktiv im Greifswalder Seniorenbeirat. Vorsitzende Christiane Sitterlee ist mit dabei. Der Seniorenbeirat pflegt auch Kontakte außerhalb von Greifswald: mit der Partnergemeinde Osnabrück, aber auch mit Partnergemeinden in Schweden und Polen. Es gab auch eine Europareise nach Straßburg, Luxemburg und Brüssel mit Besuch des EU-Parlaments. A propos: Das Europarlement müsse so bald wie möglich einen einzigen Standort bekommen, heißt es in der Runde: “Das monatliche Umziehen kostet Millionen. Das Geld könnte man besser einsetzen.” Der Seniorenbeirat trifft keine politischen Beschlüsse, führt aber Gespräche mit Bürgerschaft und Oberbürgermeister über Themen, die Senioren betreffen: mehr öffentliche Toiletten im Zentrum, mehr Sitzplätze im Park und kürzere Wartezeiten für chronisch Kranke in der Klinik. Der Beirat hat ein eigenes Büro und berät und unterstützt jede Woche Senioren bei persönlichen und bürokratischen Problemen. Besonders Senioren in hohem Alter und ohne Familie in der Nähe brauchen diese Hilfe. Die Arbeit ist ehrenamtlich. Im Großen und Ganzen erstrebt der Beirat eine „seniorenfreundliche“ Stadt mit „Seniorentagen“ und einem guten Angebot für Ältere im Kultur- und Sportbereich. Bürgerschaft und Bürgermeister schätzen die Arbeit des Seniorenbeirates. Seniorenarbeit ist ein europäisches Thema. Auch in Ländern wie Polen, Schweden und den Niederlanden wird die Bevölkerung älter. Eine gute Vertretung von Senioren und ihren Interessen ist wichtig — der Beirat arbeitet dazu mit einem Seniorenförderkonzept. 

Mitlied zu sein der EU ist für Deutschland eine gute Sache (1) …

… ohne Zweifel, sagen alle anwesenden Senioren. Zwei Seniorinnen sind Heimatvertriebene, geboren in Polen und Tschechien. Die Europäische Union hat Frieden innerhalb Europa erreicht, Wohlstand und — nach der Wende — Reisefreiheit. Das alles wird sehr geschätzt. “Ich will nicht, dass meine Enkelkinder erleben, was ich erlebt habe. Meiner Meinung nach ist die europäische Zusammenarbeit die größte Sicherheit für den Frieden”, sagt Christiane Sitterlee. Die Beiratsvorsitzende erzählt, dass die EU die Restauration der Greifswalder Altstadt mitfinanziert hat. Dies wäre ohne Hilfe aus Brüssel nach der Wende nicht möglich gewesen, weil Gemeinde und Land damals selbst das Geld nicht hatten. Alle Senioren kennen EU-Bürger, etwa aus Polen, die in Greifswald arbeiten. Polnische Krankenschwestern werden geschätzt, dagegen werden nicht-europäische Arbeitskräfte nicht so einfach akzeptiert. Eine schwarze Praktikantin aus Afrika verschwand nach einigen Tagen wieder, weil einige Bewohner sie nicht an sich heranlassen wollten. Eine der Seniorinnen, Eva-Maria, bedauert das. “Sie war wirklich nett. Ich möchte den Menschen eine Chance geben, aber leider sind nicht alle so weit.’’

Meine Stimme zählt in der EU (2) …

… die meisten Senioren stimmen dem zu, doch gibt es auch Zweifel. Vorpommern habe früher einen sehr bekannten Abgeordneten im Europaparlament gehabt, der aktiv seine Kontakte in Stadt und Land pflegte und auch für die Leute zu sprechen war. Das sei leider nicht mehr der Fall. Ein Botschafter für die EU fehle. MEP Arne Gericke, der sein Bürgerbüro in Güstrow hat, ist in Greifswald ziemlich unbekant. “Deutschland kann nicht nur zahlen”, sagt dann Wolfgang. “Wir zahlen und zahlen, wo bleibt das Geld?” Wolfgang macht sich auch Sorgen über die Asylbewerber in Deutschland. “Es sind einfach zu viele, zu viele junge Männer, die manchmal auch kriminell sind.“ Wolfgang war früher aktiv in der CDU, aber wählt zurzeit die AfD. Die Seniorinnen in der Runde sind nicht einer Meinung mit ihm. “Dass es hier so viele Flüchtlinge gibt, war keine europäische Entscheidung, sondern ein Beschluss der Bundesregierung. Das ist gar keine Europapolitik!”

Protest gegen deutsche Regierung

Eine gute Kontrolle der europäischen Außengrenze (Frontex) und Sicherheit sehen die Senioren als wichtige EU-Aufgaben für die kommenden Jahre. “Ohne Europa geht das nicht”, stimmt auch Wolfgang zu. Er sei nicht gegen Ausländer, ergänzt er, aber gegen „kriminelle Ausländer“. Er habe selbst einen Sicherheitsbetrieb mit 50 Prozent ausländischen Mitarbeitern gehabt und gute Erfahrungen gemacht. Dass er sich von der CDU abgewandt hat und nun die AfD unterstützt, sei unlogisch für einen “pro-europäischen Menschen”, sagt er und spricht von einer „Proteststimme gegen die deutsche Regierung“. Wahlen sind Pflicht, vor allem für ehemalige Bürger derunfreien DDR“, sagen alle. Auch jene für das Europäische Parlament. Es sei auch kein Problem: Das Wahllokal sei in der Nähe, und wer nicht mobil sei, stimme per Briefwahl. Die Senioren bedauern die sinkende Wahlbeteiligung im Greifswalder Raum. An der Landratswahl zwei Tage nach der Diskussion im „Haus Ostsee“ nahmen nur 49.512 der 201.605 Wahlberechtigten teil.

Wie muss es weitergehen mit Europa?

Die EU muss bestehen bleiben und wieder mit Bürgern ins Gespräch kommen, sagen die Senioren. Die Zukunft Deutschlands sei in Europa. Die jüngeren Generationen sollten deshalb mehrere Fremdsprachen lernen: “Jetzt geht’s auch mit Polnisch los!” Die Senioren finden das gut. “Der Unterricht in Fremdsprachen muss gefördert werden. „Früher ist man den Polen hier etwas komisch begegnet, aber das war unberechtigt. Die meisten arbeiten tüchtig. Die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn — das ist auch Europa.” Die meisten Senioren in der Runde fühlen sich als Greifswalder und Deutsche, einige sehen sich auch als Europäer, aber Eva-Maria fühlt sich noch immer wie ein „echtes DDR-Mädel“. — (1), (2) Die Thesen stammen aus dem neuen Eurobarometer “Democracy On The Move”.  (1) Mitlied zu sein der EU ist für Deutschland eine gute Sache: Ergebnis für Deutschland: 79 % (Seniorenrunde in Greifswald: 100 %) (2) Meine Stimme zählt in der EU: Ergebnis für Deutschland: 72 % (Seniorenrunde in Greifswald: 66 %) Onno Falkena gehört der friesischen Minderheit in den Niederlanden an und arbeitet als Journalist. Er ist zudem Mitglied der Basisgruppe von “Wir sind Europa”. Titelfoto: Nele Kirchner