Europa-Werkstatt in Zittau

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25.-26. März 2022

Wir sind Europa ist zurück in Zittau: Die Initiative der Stiftung Zukunft Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Internationalen Journalisten-Programme (IJP) war am Freitag und Samstag, den 25. und 26. März 2022 zum zweiten Mal in der Stadt zu Gast, um mit Bürgern und Bürgerinnen aus der Region ins Gespräch zu kommen. Das Europa von heute ist ein anderes, als es bei der ersten Zittauer „Europawerkstatt“ im Frühsommer 2019 war. Die Ereignisse der letzten Jahre und aktuell der Krieg in der Ukraine machten sich daher auch deutlich in der Stimmung bemerkbar – ein Beigeschmack von Verunsicherung und gleichzeitig Hoffnung und Zusammenhalt hing in der Luft.

Desto bereichernder fanden wir die Diskussionen in den verschiedenen Veranstaltungen und Workshops, in denen wir mit den Bürgern und Bürgerinnen aus Zittau besprochen haben, welche Bedeutung Europa in diesen Zeiten hat, wie wir auf die Zukunft schauen können und was jede und jeder Einzelne beitragen kann, um sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene einzubringen und die Zukunft Europas mitzugestalten. Wir möchten an dieser Stelle festhalten, was wir daraus mitgenommen haben.

RescEU: „Was, wenn es die EU nicht mehr gäbe?“

Foto: Nicole Reuter

Unter der provokanten und doch sehr aktuellen Fragestellung “Was, wenn es die EU nicht mehr gäbe?”, haben wir spielerisch im Rahmen eines “Escape Games” versucht aufzuweisen, welchen Stellenwert die EU bei jeder und jedem einzelnen hat. Positive Stimmung bei der Durchführung des RescEU Escape Games in den Klassenräumen der Richard-von-Schlieben-Oberschule in Zittau war reichlich vorhanden, sowohl bei den Schülern und Schülerinnen als auch bei unseren Spielleiterinnen. Die informelle Lernumgebung, die das Projekt mit Hilfe von Spielen und Rätseln schafft, weckte das Interesse der Jugendlichen am Mehrwert der Europäischen Union, die doch vor allem bei den jungen Mitbürgern als selbstverständlich angesehen wird.

Foto: Nicole Reuter

Jugendliche arbeiteten in kleinen Gruppen an verschiedenen Aufgaben in unterschiedlichen thematischen Bereichen und setzten sich dadurch mit der Frage auseinander, wie viel Europa in ihrem täglichen Leben steckt. Mithilfe eines Konzepts, das auf dem Prinzip der Gamification beruht, konnten wir Wissen über Geografie und Geschichte, Klima, europäische Werte, Energieversorgung und Migration/Flucht abfragen und ergänzen. Zudem gab es Diskussionsmöglichkeiten und Meinungsaustausch zu den verschiedenen Themen innerhalb der jeweiligen Gruppe sowie abschließend im Plenum.

Peripherie, Grenzen und Kultur

Die Hauptfragen während dieser Diskussion waren, wie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Polen und Tschechien am Standort Zittau im Kultursektor funktioniert, und vor allem was sie braucht, um weiterentwickelt zu werden und ob die Kulturarbeit, die geleistet wird, die Bürger und Bürgerinnen erreicht und beeinflussen kann. Weil die Regionen in Deutschland, Polen und Tschechien ihre eigenen historischen Gegebenheiten haben, bringen sie unterschiedliche Niveaus der bereits vorhandenen Infrastruktur in der Kulturarbeit mit. Diese Unterschiede machen sich auch in der Wahrnehmung Europas und in den Stellungnahmen zu Europa bemerkbar. Es ist aber klar festzustellen, dass die Bereitschaft für eine grenzübergreifende Zusammenarbeit vorhanden ist und gute Strategien bereits entwickelt wurden. So wird beispielsweise in bestehenden Projekten durch die Erinnerung an eine gemeinsame und geteilte Geschichte in der Region über aktuelle Grenzen hinweg das Gefühl der Zugehörigkeit und das Interesse an den „anderen“ geweckt. Die Grenzerfahrung im Bereich Kultur wurden nicht alleinig in Zittau und der Dreiländerregion betrachtet, sondern werden vor allem europäisch betrachtet und fließen als ein Beispiel in die Diskussionen rund um Peripherie auch in die spanisch-portugiesische Region von Extremadura ein. Vor allem die Zittauerinnen und Zittauer waren gerne bereit, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse mit Kulturschaffenden aus anderen europäischen Regionen zu teilen.

Erkundungen in der Stadt: Orte und Erinnerungen in Zittau

Foto: Matthias Weber

Die Erkundungen in der Stadt brachten Senioren und Seniorinnen aus Zittau und jüngere Teilnehmende aus anderen Städten und Regionen zu einem intergenerationellen Dialog zusammen. Der Spaziergang zum Thema jüdische Geschichte in Zittau bot Zweiteren die Möglichkeit, die Stadt durch einen ganz bestimmten historischen Blickwinkel kennenzulernen und stellte für Erstere eine Gelegenheit dar, die eigene Stadt durch neue Augen zu erkunden. Durch Gespräche zur persönlichen Geschichte der anwesenden Bürger und Bürgerinnen aus Zittau entstand so ein vielschichtiges Bild der städtischen Historie, das das ganze zwanzigste Jahrhundert aus persönlicher und kollektiver Perspektive abbildete. Der Rundgang veranschaulichte auch deutlich, welche Leere die historisch vertriebene und heute nicht mehr vorhandene jüdische Gemeinde hinter sich gelassen hat und wie wenig Wissen darüber noch existiert. Darüber hinaus und durch den sichtbaren Leerstand in der Stadt stellte sich auch die Frage der Zukunft Zittaus, das von 45.000 Einwohner nach dem Krieg auf 25.000 heute geschrumpft ist.

Medienwerkstatt

„Es gibt viele Medienkooperationen zwischen Frankreich und Deutschland, aber im Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien warten wir seit dem Wegfall der Grenzen immer noch darauf.“ Der Journalist Axel Arlt von der sorbischen Tageszeitung Serbske Nowiny aus Bautzen war einer der 15 Journalistinnen und Journalisten aus Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Polen und den Niederlanden, die beim Zittauer Medienworkshop die Chancen und Möglichkeiten einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den Medien in Sachsen und den Nachbarregionen in Polen und Tschechien ausloteten.

Foto: Nicole Reuter

Aber es gibt verschiedene Gründe, warum die Medienzusammenarbeit zwischen den drei Ländern nicht einfach ist. Während das Land Sachsen über einen eigenen Haushalt und eine eigene Medienpolitik verfügt, sind die Nachbarregionen in der Tschechischen Republik und Polen bei der internationalen Zusammenarbeit stärker von den Budgets und Entscheidungen der nationalen Regierungen in Prag und Warschau abhängig. Zudem spielt Sprache in der Region eine große Rolle: nur fließend zweisprachige oder sogar dreisprachige Journalisten und Journalistinnen können problemlos über Grenzen hinweg arbeiten und haben somit Zugang zu allen benötigten Informationen.
Zur Mittagszeit besuchte die gesamte Gruppe des Medienworkshops den Newsroom des Zittauer Büros der Sächsischen Zeitung. Abschließend wurde festgestellt, dass durchaus Interesse und Bedarf an grenzüberschreitender Medienzusammenarbeit besteht doch um die Herausforderungen überbrücken zu können, bedarf es nicht nur einer klaren Politik zur Förderung der grenzüberschreitenden Medienzusammenarbeit, sondern auch konkreter Finanzierungsmodelle und Infrastruktur.

Youth Think Tank

Am Samstagmittag trafen sich die Mitglieder von Wir sind Europa im Café der Hillerschen Villa, um mit der Zittauer Jugend in den Dialog zu treten. Demokratie in Europa braucht eine funktionierende Öffentlichkeit, die früh beginnt, deswegen waren junge Europäer und Europäerinnen eingeladen. Der russische Überfall auf die Ukraine bot einen traurigen Anlass, um sich mit den demokratischen Werten in Europa auseinanderzusetzen. Wir nutzten die Aktualität und luden Alex Guzenko ein, um über die Lage in der Ukraine zu sprechen.

Oleksandr (Alex) Guzenko ist ein ukrainischer Journalist, der für mehrere NGOs und das ukrainische Parlament gearbeitet hat. Er war live aus dem Westen der Ukraine via Zoom zugeschaltet. Mit sehr eindrücklichen Worten schilderte er uns die derzeitige Situation in seiner Heimat und sprach über die Schwierigkeiten, mit denen er und seine Familie tagtäglich zu kämpfen haben. Die Teilnehmenden fragten, wie sie als junge Menschen in Deutschland den Ukrainern und Ukrainerinnen am besten helfen können. Alex Guzenko bedankte sich sehr für die großzügige Hilfe, die Geflüchtete aus der Ukraine zurzeit in Europa erhalten. Er appellierte aber auch an uns, dass diese Hilfe langfristig gedacht werden müsse, weil weiterhin kein Ende des Krieges in Aussicht sei.

Dieser Appell beschloss den Youth Think Tank, der uns bewusst gemacht hat, wie fragil doch manchmal der Frieden ist.

Open Space Europa

Foto: Matthias Weber
Foto: Matthias Weber

Beim Open Space Europe hatten Zittauer Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit, sich mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Gesellschaft, mit Kulturschaffenden, Journalistinnen und Journalisten sowie Aktiven im Bereich Europa auszutauschen. Von den angesprochenen Themen sollen an dieser Stelle zusammenfassend folgende Punkte hervorgehoben werden:

  • In vielen Bereichen besteht bereits eine Kooperation zwischen den Regionen im Dreiländereck, auch funktionierende Strukturen (z.B. Oder-Neiße Region seit 1990, grenzüberschreitende Kulturarbeit) sind vorhanden. Was alle drei Regionen teilen, ist die Tatsache, dass sie jeweils am Rande der nationalen Aufmerksamkeit stehen. Strukturen auf dem Land sind schwächer, und die Ressourcen sind begrenzt. Es ist wichtig, auf diese Probleme aufmerksam zu machen und dabei lauter zu werden. Die Problemstellung des Kohleausstiegs und Turów sind wichtige Themen, die an den Grenzen Europas behandelt und entschieden werden – diese sollten in den Fokus der Aufmerksamkeit in den jeweiligen Ländern und in Europa rücken.
  • Sprache spielt eine immens große Rolle, und es ist wichtig, die Sprache als eine Chance zu erkennen. Dabei ist es wichtig, dass die Sprachvermittlung bereits in der frühkindlichen Erziehung ansetzt und dass eine Kontinuität gegeben ist. Es besteht zudem in der Region ein Ungleichgewicht, da die deutsche Bevölkerung die Sprache der Nachbarländer häufig nicht spricht, es aber andersherum erwartet wird. Dabei sagt die Bereitschaft, die Sprache der Nachbarn zu lernen, viel über die Kooperationsbereitschaft aus. Nur, dafür ist es nötig, die Infrastruktur zu schaffen und das Bewusstsein dafür zu erhöhen, wie wichtig es ist, mit den Nachbarn reden zu können.
  • Eine starke Zivilgesellschaft ist für den kulturellen und europäischen Fortschritt von zentraler Bedeutung. 2019 gab es durch die Bewerbung Zittaus für den Titel des Europäisches Kulturhauptstadt 2025 einen starken zivilgesellschaftlichen Schwung, der aber durch die Ereignisse der letzten Jahren an Kraft verloren hat. Die Frage, die im Raum stand, lautet: Wie schafft man es trotz Schwierigkeiten und gespaltener Meinungen, die Bevölkerung weiterhin zu motivieren, sich für ihre Stadt einzusetzen?
  • Eine große Herausforderung in Zittau steht für eine in vielen kleinen Städten typische Entwicklung: der demografische Wandel und das Verlassen der Region durch junge Menschen. Gleichzeitig kritisierten junge Stimmen im Publikum, dass von dem seit drei Monaten stattfindenden europäischen Jahr der Jugend bislang noch nichts wahrzunehmen sei. Es ist extrem wichtig, den Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit den europäischen Werten zu ermöglichen und ihnen diese näher zu bringen. Eine Struktur für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist vorhanden, diese ist aber ausbaufähig und muss weiterhin gestärkt werden. Zudem müssen Themen, die insbesondere zukünftige Generationen betreffen, seien es Corona, Krieg oder die Klimakrise, in den Fokus gestellt werden.