Von Anne Marleen Könneke
„2020 – die EU hat es nie gegeben“ – wäre die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland dennoch in dieser Form möglich gewesen? Welche Folgen hätten eine geschlossene Grenze für den Kohleabbau in der Lausitz? Das Reisen wäre sicherlich schwieriger, ja – Geldumtausch, stundenlange Grenzkontrollen –, aber sähe mein Alltag tatsächlich anders aus? Die Teilnehmenden waren sich hier uneins. Auf der einen Seite gäbe es weniger Vielfalt in der Stadt, weniger Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, sei es geografisch oder sozial. Das Leben wäre weniger bunt – langweiliger. Auch der Handel mit dem Ausland wäre sicherlich schwieriger. Höhere Preise, ein niedrigerer Lebensstandard wären die Folge. Andererseits, bieten geschlossene Grenzen nicht auch ein Mehr an Sicherheit, gerade angesichts der – am 6. März erst beginnenden – „Corona-Krise“? Und damit waren wir bei einer der zentralen Fragen der Gegenwart, nicht nur, wenn es um Europa und die Europäische Union geht: Freiheit oder Sicherheit? Hier konnte Herr S. mit seinen Erfahrungen einspringen: die Hälfte seines Lebens verbrachte er in einem Land, für welches „Freiheit“ eine Gefahr darstellte. Für die Gymnasiasten fast unvorstellbar, dass der Erhalt eines Studienplatzes vom – richtigen – politischen Engagement abhing, trotz fantastischer Noten, wie Herr S. uns durch seine Zeugnisse belegen konnte. Und dann, Anfang der 90er, plötzlich die Möglichkeit, in ein Flugzeug zu steigen und nach Kanada zu fliegen. Erst da, so Herr S., habe er begriffen, was „Freiheit“ wirklich bedeute.
Ein anderes Szenario: „2050“ – die Schülerinnen und Schüler werden jetzt mitten im Berufsleben stehen – „die EU existiert weiterhin“. Realistisch? Gut oder schlecht? Unabhängig von der Weltpolitik, wie können sich Cottbus, Brandenburg, die Lausitz in einer Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen und Zentren wie Paris, Brüssel oder Berlin behauptet? Auch wenn seit Jahren die Abwanderung gerade junger Menschen aus vielen Teilen der ostdeutschen Bundesländer in den „Westen“ und die Großstädte beklagt wird, zumindest die Achtklässler des Max-Steenbeck-Gymnasiums wollen nicht weg aus ihrer Heimat. Und so entwickelten die Schülerinnen und Schüler Ideen, wie Cottbus auch nach dem Kohle-Ausstieg ein, nein „das“ Zentrum der europäischen Energieversorgung werden könnte. Wenn also in zehn, fünfzehn Jahren halb Europa mit Strom aus Blitz-Kraftwerken aus Cottbus versorgt wird, neben denen das 70 Kilometer von Cottbus entfernte Tesla-Werk wie eine nette kleine Heimwerkerbude wirken wird – wundert euch nicht.
„Europa“, das ist die für die Schülerinnen und Schüler aus Cottbus, wenn die Mutter zur Arbeit ins nahe Polen fährt und der beste Freund halt auf der anderen Seite der Neiße wohnt – Alltag. Die „großen“ Fragen nach Krieg und Frieden, die noch die ältere Generation beschäftig(t)en, spielen kaum noch eine Rolle. Aber vielleicht ist gerade dies einer der größten Erfolge der Europäischen Einigung.
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Anne Marleen Könneke hat Rechtswissenschaften studiert und arbeitet nunmehr als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Mitglied der Basisgruppe von “Wir sind Europa!”