Zurücklehnen ist nicht mehr

Various

Die Europäer sollten sich nicht mehr als Konsumenten der EU sehen. Mit ihren verschiedenen Kulturen und Eigenheiten können sie Europa selbst gestalten.

Ein Thesenpapier von Volker Hassemer und Bernhard Schneider

Die Europäische Union braucht mehr „Europa von unten“

Wir müssen die Arbeit für Europa vom Kopf auf die Füße stellen. Wir brauchen ein Europa, dessen Bürger nicht als Konsumenten, sondern als mitverantwortliche Produzenten des europäischen Projekts agieren. Gern verweisen Abgeordnete und Regierungsmitglieder darauf, dass sie für ihre jeweilige Klientel „in Brüssel“ etwas herausgeschlagen haben. So macht man aus Bürgern Konsumenten der „Ware“ Europa. Damit Europäerinnen und Europäer dieses Projekt als ihr Eigentum wahrnehmen und annehmen können, muss es zu ihnen zurückkehren. Niemanden darf irritieren, dass die Europäer das große Ganze Europas jeweils aus ihrer spezifischen nationalen, regionalen und lokalen Perspektive sehen. Finnen anders als Portugiesen, Schotten anders als Letten. Sie hätten einander viel zu sagen über dieses Europa, in dem sie sich auskennen. Dort, wo die Europäer leben, sind die Originalschauplätze der Seele Europas.

Wir Europäer müssen zu unseren Unterschieden stehen

Wenn Jacques Delors, der bedeutende Kommissionspräsident von 1985 bis 1995, sagte, Europa brauche eine Seele („Il faut donner une âme à l‘Europe.“), dann wird dieser berechtigte und notwendige Ruf nach einem kulturellen Kern des politischen Unternehmens Europa immer zunächst eine vielstimmige, mitunter kontroverse Antwort finden. Nur so ist Europas Seele zu erfassen, als ein Jahrhunderte altes, vor allen Nationen entstandenes plurales Gebilde voll kulturellen Eigensinns. Auf der ersten Berliner Konferenz der Initiative A Soul for Europe 2004 sah der rumänische Philosoph und ehemalige Außenminister Andrei Pleşu das Problem darin, die Unterschiede zwischen uns korrekt zu interpretieren, zu diesen Unterschieden zu stehen und sie zu verstehen! Das ist die „Vereinigung“, die wir anstreben müssen. Der Rest ist reine Verwaltung. Und auf derselben Berliner Konferenz sagte Kommissionspräsident Barroso: „Die EU hat ein Entwicklungsstadium erreicht, in dem ihre kulturelle Dimension nicht länger ignoriert werden kann“ („The EU has reached a stage of its history where its cultural dimension can no longer be ignored.”)

Bürger wie Amtsträger nehmen eine europäische Aufgabe wahr

Städte, Stadtrepubliken und Regionen haben die politische Kultur Europas hervorgebracht, seine öffentlichen Räume, sein Rechts- und Finanzwesen und den Handel, seine Sprachen und Dialekte, seine Wissenschaften, seine Küche. Eine andere kulturelle Lebensgrundlage des Kontinents sind die nationalen Akademien, öffentliche und private Forschungs- und Bildungseinrichtungen und die großen und kleinen Festivals der Musik, des Theaters, des Tanzes, des Films oder der bildenden Kunst. Sie machen Städte und Regionen periodisch zu kulturellen Treffpunkten Europas und der Welt. Und sie selbst „ernähren“ sich von der Lebendigkeit der Kunst und Kultur, die an ihren Schauplätzen gedeiht. Das politische und kulturelle Instrumentarium, um diese Diversität auch für einen Aufbau der EU von unten fruchtbar zu machen, muss allerdings noch entwickelt werden.

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  Die Kultur Europas ist zu Hause in den Städten und Regionen. Und bei den Menschen, den Europäern, die dort leben. Wer in einer Stadt oder Region mit Kultur zu tun hat, ob als Bürger oder Amtsträger, nimmt also eine europäische Aufgabe wahr. Ob er es weiß oder nicht, er ist ein Akteur des Europas von unten. Er muss sich mehr als bisher bewusst machen, dass er in dieser Verantwortung handelt. Deutlich wird das aktuell beim Umgang mit Migranten, die in den Kampagnen um das Referendum der Briten und im Ruf nach weiteren Referenden eine so herausragende Rolle spielen. In Europas Städten und Regionen kommen sie an, und vor allem dort entscheidet sich, ob Fremde zu Mitbürgern, Einwanderer zu Bürgern Europas werden und ein europäisches Problem zum Gewinn für die Menschen vor Ort und für Europa als Ganzes.

Die EU braucht alle Europäer, mit all ihren Eigenheiten

Man darf sich nicht täuschen: Die Europäer werden in dem Maß ihr Vertrauen auf die EU setzen, wie ihr national und regional differenziertes Verständnis von Europa sich nicht in einem kleinsten gemeinsamen gesamteuropäischen Nenner auflöst, sondern in seinem jeweiligen Eigensinn gültig bleibt – das bulgarische Europa, das französische, das schwedische, das zyprische, niederländische, sizilianische, hanseatische etc. Soll Europa mehr werden als die Summe seiner Teile, muss diese Summe überhaupt erst einmal ins Spiel kommen. Eine besondere Rolle kommt dabei der „Peripherie“ zu, insbesondere den östlichen Mitgliedsstaaten, mit deren Beitritt 2004 die EU nicht nur an Ausdehnung, sondern auch an komplementärer kultureller Substanz zurückgewonnen hat. Die EU braucht sie alle, diese unterschiedlichen Versionen, Europäer zu sein, sonst bleibt sie Fragment. Kein Prager Taxifahrer wird dem früheren tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus zustimmen, wenn er behauptet, ein integriertes Europa sei nichts für normale Leute, sondern Sache einer Minderheit, die zum Abendessen nach London fliegt und am nächsten Tag in Florenz einkaufen geht. Nein, schon immer gehört das böhmische Europa zum kulturellen Kernbestand aller Europäer, und umgekehrt wurde die Prager Universität 1347 nach dem Vorbild von Paris gegründet. Der Wenzelsplatz im August 1968 und die deutsche Botschaft im September 1989 sind zu Orten des gesamteuropäischen Gedächtnisses geworden. Diese „lieux de mémoire“ gehören nicht Prag und den Tschechen allein. Kafkas Schloss sowieso nicht. — Volker Hassemer ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zukunft Berlin. Er und Bernhard Schneider zählen zu den Initiatoren von „A Soul for Europe“. Weitere Beiträge der Initiative finden sich in ihrer Online-Debatte. Foto: Pexels/Creative Vix